Inhalt:
- Problemaufriss: "Mal sehen, ob der Typ echt ist ...."
- Quellen zu: Der Lehrer als Erzieher
- Heinrich Geißler: Der Lehrer: Lehrerrolle, Rollenvielfalt, Rollenkonflikt
- Christian Caselmann: Wesensformen des Lehrers
- Arno Combe: Kritik der Lehrerrolle
- Otto Friedrich Bollnow: Über die Tugend des Erziehers
- Eduard Spranger: Der geborene Erzieher
- Bauer, Kopka &. Brindt: Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit
- Hermann Giesecke: Das Ende der Erziehung
- Rainer Winkel: Die Persönlichkeit des Lehrers
- Hans Christian Thalmann: Den Schulalltag bestehen.
- Reinhard Tausch &. Anne-Marie Tausch : Wesentliche Verhaltensdimensionen von Lehrern, Dozenten, Erziehern in Erziehung und Unterricht
- Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte
- Die Geschichte von Hans Hefeteig
8. Hermann Giesecke: Das Ende der Erziehung
Die entpädagogisierte Schule
Die Schule in ihrer gegenwärtigen Gestalt verdankt ihre Existenz jenen Voraussetzungen der bürgerlichen Erziehung, die nun ihrem historischen Ende entgegengehen. Dies ist vermutlich der wesentliche Grund dafür, dass sie in einer tiefen Krise ihres Selbstverständnisses steckt, die die Reformmaßnahmen der siebziger Jahre eher verstärkt als gemildert haben. Die Klagen über undiszipliniertes, ja kollektiv‑infantiles Verhalten auch älterer Schüler, über fehlende Konzentrationsfähigkeit und motorische Unruhe, über Lärm, Unlust und Langeweile sind zu häufig und auch zu sehr übereinstimmend, als dass sie als Gejammer eines Berufsstandes abgetan werden könnten. Dies schlägt auf die Berufszufriedenheit vieler Lehrer zurück in Gestalt von oft krank machenden Zweifeln an der eigenen Qualifikation wie am Sinn der eigenen Profession.
Je weniger öffentliche Übereinstimmung darüber herrscht, wozu Schule eigentlich da ist und wozu nicht, desto mehr werden ihr Aufgaben aufgebürdet oder von ihr an sich gerissen, die mit ihrem ursprünglichen Zweck nichts mehr zu tun haben, bloß weil sie an der eigentlich zuständigen Stelle, zum Beispiel im Elternhaus, nicht erledigt werden.
Zudem erstickt die Schule in Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden in der Annahme, die staatliche Weisung könne hier irgendwelchen Übeln abhelfen. Wenn die Zahl der Verkehrstoten steigt oder die Wehrgesinnung sinkt oder die Friedensdiskussion in der Öffentlichkeit zu "einseitig" erfolgt, wird nach Erlassen gerufen, die die Schulmeister anhalten sollen, das Nötige unverzüglich beizubringen.
Die ursprüngliche Bildungsfunktion der Schule wird auch durch Verrechtlichung überdeckt. Besonders deutlich wird dies am Notenverrechnungssystem im Zusammenhang mit dem Numerus clausus. Hier wird sozusagen aus Äpfeln, Birnen, Pflaumen usw. ein Obstdurchschnitt errechnet. Wenn aber die einzelnen Schulfächer dazu dienen sollen, die Fähigkeiten wie auch die Leistungsgrenzen der Schüler erfahrbar zu machen, dann verlieren solche Verrechnungen ihren Sinn. Das gilt aber auch dann, wenn die Fächer weitgehend wählbar werden wie in der gymnasialen Oberstufe, weil dann die tatsächlich oder vermeintlich "schwachen" Fächer auch dann abgewählt werden können, wenn eine prüfende Auseinandersetzung mit ihnen gar nicht erst stattgefunden hat.
Die Bildungsfunktion der Schule ist ferner weitgehend überlagert worden durch eine Bewahrungsfunktion (custodiale Funktion): Kinder werden vormittags und teilweise auch nachmittags den Familien und der Öffentlichkeit entzogen, so dass die Erwachsenen ihren beruflichen und sonstigen Pflichten nachkommen können. In dieser Funktion ist die Schule natürlich vorwiegend an der Gegenwart der Kinder interessiert, weniger an deren Zukunft, und so suchen moderne didaktischmethodische Arrangements vergessen zu machen, dass hier "Schule" stattfindet, indem sie den Kindern den Aufenthalt möglichst attraktiv zu machen trachten, unentwegt nach deren "Bedürfnissen" forschen und dabei am liebsten die gängige Fernsehunterhaltung kopieren würden. Nun ist aber gerade die custodiale Funktion eine überflüssige Pädagogisierung, insofern ja "verwahrt" werden muss, wer als unfähig gilt, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Vielleicht liegt es auch daran, dass viele Kinder die Schule als langweilig und lästig erleben und keinen Sinn darin sehen, warum sie sich dort so lange Zeit aufhalten sollen.
Unsere These ist, dass die Kinder nicht sind, als was sie uns heute in den Schulen erscheinen, sondern dass sie durch das pädagogisierte Getue in Familien und Schulen dazu gemacht werden, dass ihnen erwachsenes Verhalten nicht abverlangt, sondern verwehrt wird. Wozu also ist Schule noch da, wenn Gegenwart und nicht Zukunft die dominante Zeitperspektive ist und wenn die Kinder ihre Zukunft verinnerlichen müssen? Dazu abschließend einige Thesen.
Wozu ist Schule nötig?
Zunächst muss die Schule sich wieder besinnen auf ihre eigentümliche Aufgabe im gegenwärtigen Sozialisationsprozess, also auf das, was nur sie dabei leisten kann und was weder die Familie noch die Massenkommunikation noch die Gleichaltrigen anzubieten vermögen. Alle übrigen Erziehungs‑ beziehungsweise Sozialisationsfelder entwickeln wichtige Fähigkeiten des Kindes, aber nur in der Schule können sich systematische, "sinnvolle" Vorstellungen über die wesentlichen Dimensionen der gesellschaftlichen und kulturellen Existenz ‑ über Politik, Wirtschaft, Kultur, Natur ‑ aufbauen. Die Aufgabe der Schule wäre also, durch "wechselseitige Erschließung" (Klafki) Kind und Welt in einen produktiven Austausch zu verwickeln, gerade in der massenmedialen Über‑ und deshalb auch Desinformiertheit kategoriale Schneisen anzubieten, um die herum sich angemessene Weltvorstellungen aufbauen lassen. Das kann nur die Schule leisten, und zwar durch das ihr eigentümliche Verfahren des systematischen, planmäßigen Unterrichts. Nur ein solcher Unterricht legitimiert eine Institution wie die Schule, die Menschen für eine bestimmte Zeit aus ihren sonstigen Lebenszusammenhängen herauszulösen (was für die Universität sinngemäß auch gilt). Insofern ist die immer wieder erhobene Forderung nach einer besseren Verbindung der Schule mit dem Leben problematisch, soweit sie mehr meint als eine didaktische Strategie. Zum Wesen des Unterrichts gehört, dass Menschen sich zu diesem Zweck in eine bestimmte Sozialsituation begeben, die so im sonstigen gesellschaftlichen Leben nicht anzutreffen ist.
Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen ermöglichen heute schon Kindern eine im Vergleich zu früheren Zeiten unvorstellbare Informiertheit. Aber sie liefern die "Fibel" nicht mit, mit deren Hilfe diese Informationen und Bewertungen zu einem kategorial erschlossenen Weltverständnis führen können. Ohne eine solche Ausbildung der Vorstellungskraft sind die Informationen und Deutungsstrukturen der Massenmedien nicht sinnlos, aber sie verbleiben auf der vordergründigen Ebene undurchschauter Sozialisation in Form von Anpassung an wechselnde Moden und herrschende Meinungen. Auch Schule wäre nur Teil eines solchen Sozialisationsprozesses, wenn sie nicht aufklärenden Unterricht zu ihrer eigentümlichen Aufgabe erklärte. Damit ist über das erforderliche didaktisch‑methodische Arrangement noch gar nichts entschieden. Der lehrerzentrierte Unterricht kann dazu ebenso gehören wie eine Theateraufführung oder die Reparatur von Motorrädern.
Bildung statt Erziehung
Ein in diesem Sinne auf die Ausbildung von Fähigkeiten zielender Unterricht muss jeglichen "Erziehungsauftrag" zurückweisen, der nicht aus den Bedingungen des Unterrichts notwendigerweise erwächst. Die Schule ist zum Beispiel nicht der Ort eines allgemeinen "sozialen Lernens" ‑ dafür sind die Familie und die Gleichaltrigen da ‑, sondern der Ort, wo man lernt, gemeinsam mit anderen geistige Arbeit ‑ und nicht irgend etwas ‑ zu betreiben. Die Schule kann nur insofern erziehen, als sie die dafür nötigen Tugenden und Verhaltensweisen abverlangt. Damit Unterricht gelingen kann, ist ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, an Kooperationsfähigkeit, an Aufmerksamkeit und Artikulationsfähigkeit nötig. Diese Fähigkeiten und Verhaltensweisen muss die Schule mit ausbilden, aber darüber hinaus hat sie keine Legitimation mehr, zu irgend etwas zu erziehen; geschieht dies dennoch, so führt das nur zu einer mehr oder weniger willkürlichen, den jeweiligen Machtverhältnissen unterworfenen Politisierung, die den Konsens einer allen weltanschaulichen und demokratisch‑politischen Variationen verpflichteten Institution gefährden müsste. Insofern lernt man in der Schule für die Schule, für das Leben nur insoweit, als das Gelernte dort auch benötigt wird und die erworbenen Vorstellungen auch auf andere Situationen übertragbar bleiben. Unser Plädoyer zielt also auf eine Reduktion und Konzentration des schulischen Anspruchs. Die Schule kann nur noch ein Teil des kindlichen Lebens sein, vielleicht nicht einmal der wichtigste, insofern die Sozialisation außerhalb der Schule nicht hintergangen werden kann.
Entrechtlichung des Unterrichts
Der Bildungsauftrag der Schule kann nur insoweit wieder zur Geltung kommen, als der Unterricht entrechtlicht wird. Da die Verrechtlichung sich insbesondere an den sozialen Folgen von Schulnoten und Zeugnissen festmacht, ist sie nachhaltig wohl nur dadurch zu verringern, dass die Automatik von Schulabschluss und Berechtigung aufgehoben wird. Das gilt vor allem für die Ebene des Abiturs. Das Abitur darf höchstens noch eine Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums sein, keine automatische Berechtigung mehr dafür. In diesem Falle wären die Zensuren ohne unmittelbare soziale Folgen und könnten wieder stärker eine pädagogische Funktion bekommen (zum Beispiel Maßstab für den individuellen Lernfortschritt sein). Kein potentieller Arbeitgeber, der die Sache durchschaut hat, macht heute die Schulnoten zum Hauptkriterium einer Einstellung, das gilt von der Hauptschule bis hin zu akademischen Abschlüssen. Je weniger nämlich Schule und Hochschule mit ihren Zeugnissen die Zukunft ihrer Absolventen im Blick haben können, um so mehr neigen sie dazu, deren Gegenwart etwas Gutes zu tun, zum Beispiel durch relativ "günstige" Beurteilungen. Wie schon gesagt, ist unser Berechtigungswesen eng verbunden mit jener überlieferten Vorstellung des an der Zukunft des Kindes festgemachten sozialen Auf‑ und Abstiegs. Statt eines solchen Systems von "Schullaufbahnen" brauchen wir ein flexibles Bildungsangebot, das nicht weite Zukunftsperspektiven versteinert, sondern kürzere attraktiv macht, die der zunehmenden Gegenwartsorientierung entgegenkommen. Die überlieferten relativ frühen und kaum wieder rückgängig zu machenden Bildungsgangentscheidungen (zum Beispiel nach der Grundschule Übergang aufs Gymnasium) sind historisch überholt.
Ebenso historisch überholt ist die lange Fixierung des Jugendalters auf Schule und Hochschule. Schul‑ und Studienzeiten sollten im allgemeinen verkürzt, dafür spätere "schulische Phasen" während der Arbeitszeit attraktiv gemacht werden. Die langen Schulzeiten tragen nicht unwesentlich zur pädagogischen Infantilisierung des Jugendalters bei, und je länger die Schule dauert, um so weniger attraktiv kann sie sein, sie hat dann einfach immer weniger zu bieten für die Zeit, die sie beansprucht. Vielleicht ließe sich das mildern, wenn die Schule sich stärker gegenüber ihrer Umwelt öffnen würde, wenn sie zum Beispiel Aufgaben der sozialen und kulturellen Mitgestaltung dieses Umfeldes übernähme und vor allem Personen aus diesem Umfeld ‑ Politiker, Vertreter von Organisationen, Handwerker usw. ‑ in den Unterricht hinein holte.
"Pädagogische Verantwortung" des Lehrers
Die tiefe Verunsicherung der Schule hat sich nicht zuletzt niedergeschlagen in einer Verunsicherung des Umgangs zwischen Lehrern und Schülern. Die Skala der Beziehungen reicht von traditionell‑autoritär bis kumpelhaft. Wenn niemand mehr so recht weiß, wozu die Schule da ist, wird auch unklar, wie man warum miteinander in ihr umgehen soll. Gerät jedoch wieder in den Blick, dass es zentrale Aufgabe der Schule ist, durch Unterricht wichtige Fähigkeiten der Schüler zur Entfaltung zu bringen, dann vertritt der Lehrer dem Schüler gegenüber zunächst einmal eine "Sache", die er ihm beibringen will. Das dafür nötige didaktische Handwerk sollte er möglichst gut beherrschen, ohne dabei Fernsehen und BRAVO imitieren zu wollen. Er sollte seinen professionellen Ehrgeiz darin sehen, Ängstliche mutiger zu machen, Schwächere zu ermuntern und zu fördern und vor den Stärkeren zu schützen. Im übrigen sollte er eine Kommunikationsfähigkeit zeigen, in der auch Humor und Nachsicht einen Platz haben. Fachlich‑didaktische Kompetenz plus wenigstens mittlere Kommunikationsfähigkeit ‑das ist zunächst einmal die Grundlage des "pädagogischen Bezugs", die der Lehrer dem Schüler vorzugeben hat, damit er sich daran orientieren kann. Weder die Sache noch die Kompetenz ihrer didaktischen Präsentation können dem Schüler zur Disposition stehen und also auch nicht die für den Umgang mit der Sache nötigen Verhaltensweisen. jeder Erwachsene, der von anderen etwas lernen will, weiß das und akzeptiert die entsprechenden Regeln. Sogenannte "Disziplinschwierigkeiten" zu dulden oder überhaupt diese Regeln den Schülern zur Disposition zu stellen ist also kein Zeichen von Großzügigkeit oder von demokratischer Haltung, sondern von Vorenthaltung des schon möglichen Erwachsenenhabitus, von überflüssiger Pädagogisierung.
Aber wie bei den Eltern, so hat auch die "pädagogische Verantwortung" des Lehrers ihre Grenze. Er kann zum Beispiel die fehlende Bereitschaft des Schülers zur Mitarbeit letzten Endes nicht unterlaufen, obwohl ihm möglicherweise die Mär aufgebunden wurde, man könne jeden Schüler motivieren, wenn man es nur richtig verstehe. Fraglich ist vielmehr schon, ob man überhaupt planmäßig und gezielt einen Menschen motivieren kann, oder ob es nicht vielmehr darauf ankommt, vorhandene Motivationen nicht zu zerstören und im übrigen ein Klima zu schaffen, in dem vielleicht neue Motivierungen entstehen können. Die Welle der Pädagogisierung hat die "Machbarkeit" von Lernen und Bildung in sehr unrealistischer Weise propagiert. Hier müssen die Verantwortlichkeiten wieder klar verteilt werden. Die pädagogische Verantwortung des Lehrers hat den Willen zur Mitarbeit zur Voraussetzung, ganz unabhängig vom Maße der Lernfähigkeit. Jede Lernfähigkeit kann gefördert und weiterentwickelt werden, aber für den Willen dazu ist nicht mehr der Lehrer, sondern der Schüler verantwortlich beziehungsweise ‑je nach Alter ‑ seine Eltern. Dass es immer am Lehrer liegt, wenn die Schüler nicht lernen wollen, ist einerseits Signal für ein Abschieben der Verantwortung, andererseits ein Gebräu, von dem sich die Pädagogisierung nährt.
Eine weitere Grenze der "pädagogischen Verantwortung" liegt darin, dass der Lehrer nicht Mitglied der Familie seiner Schüler ist und infolgedessen weder die Pflicht noch das Recht hat, die ganze Persönlichkeit seiner Schüler "in den Griff zu nehmen". Weder das Seelenleben des Kindes noch überhaupt der Kern seiner Persönlichkeit gehen ihn etwas an. Gestörte Kinder, die vielleicht eine Therapie brauchen, kann er nicht selbst therapieren. Weder die Familie noch die Schule ist eine therapeutische Institution. Zu den Persönlichkeitsrechten der Schüler gehört auch ihre unterhalb der formellen Unterrichtssituation verlaufende "Subkultur" mit ihrem eigenen Jargon und mit eigenen Ritualen; der Lehrer sollte sie weder durch psychologische Tricks in die Hand zu bekommen versuchen noch sich ihr anbiedern. Zum
Anbiedern" gehört auch, diese informelle soziale Dimension zum Gegenstand des Unterrichts zu machen in der Hoffnung, daß dies "motivieren" könne. Solche Hoffnungen trügen fast immer, und zwar vor allem deshalb, weil die Schüler von der Schule etwas anderes, irgendwie "Wichtiges" erwarten, was sie sich gerade nicht selbst beibringen können. Die Schule nimmt die Schüler nicht zuletzt dadurch ernst, dass sie auch die kulturelle Distanz deutlich macht, die zwischen der Subkultur und ihren eigenen Ansprüchen besteht.
"Wahrheit" und "Richtigkeit" als regulative Ideen
Eine sehr problematische Folge des pädagogisierten Denkens ist, wie wir sahen, dass der "Eigenwert" der Sachverhalte aus dem Blick geraten ist zugunsten ihrer Verwertbarkeit beziehungsweise ihrer sozialen Instrumentalisierung. Dies ist ein Problem allen Lehrens und Unterrichtens, weil ja die jeweilige "Sache", um verstanden werden können, für das Bewusstsein der Schüler beziehungsweise Studenten umstrukturiert, didaktisch aufbereitet werden muss. Im Akt der Vermittlung ändert eine Sache ihre Struktur, weil sie mit der Erfahrung des Schülers (zum Beispiel mit seinem bisherigen Wissen) eine Verbindung eingehen muss. Es gibt hier gewissermaßen "Transportverluste". Das Problem gab es auch im Rahmen der alten Bildungstheorie. Aber dort war die Didaktik der Versuch, die Lehr- und Lernbarkeit in der Sache selbst aufzuspüren, in ihrer vereinfachten Grundstruktur oder in ihren exemplarischen Teilen oder in phänomenologischen Reduktionen. Um etwa komplizierte Maschinen begreifbar zu machen, wurde versucht, die notwendigen Elemente von Maschinen überhaupt zu ermitteln, um von daher das Komplexe als Variation des Einfachen erklären zu können.
Die modernen Curriculum‑Konstruktionen und vor allem kommunikativ
beziehungsweise interaktionistisch orientierte didaktische Konzepte haben
jedoch diese Art der didaktischen Analyse im Prinzip verlassen. Die kommunikativ
orientierten Konzepte verweisen etwa nicht zu Unrecht darauf, dass zumindest
bei all jenen "Sachen", die einer Bewertung unterliegen, weil
sie für das Leben der Menschen von mehr oder weniger großer Bedeutung
sind, diese Bewertungen in die Definition der Sache eingehen, über die
dann in der Familie oder Schule kommuniziert wird. Diejenigen aber, die über
diese Sache so kommunizieren, seien außerstande, jenseits der Kommunikation
einen objektiven Maßstab ‑ also die "Wahrheit" ‑zu
finden. Da andererseits aber jede Definition der Sache gleichberechtigt sei ‑ es
sei denn, jemand wie der Lehrer habe die Macht, seine Definition durchzusetzen
(und wer will einen solchen Makel schon auf sich laden) ‑, sei die Sache gleichsam
nur noch ein Thema, das den Anlass für eine Kommunikation bildet,
in der es nicht mehr um die Suche nach "Wahrheit" oder "Richtigkeit" gehe,
sondern um die Beziehungsdimension, wie nämlich sozio ‑emotional
mit den Ansichten der anderen umgegangen wird (z. B. autoritär oder
tolerant, teilnehmend oder ablehnend usw.).
Nun gibt es sicher soziale Orte, an denen diese Art des miteinander Redens
und Denkens ihre Berechtigung hat. Die Familie zum Beispiel ist keine Schulstube,
und sich mit der je subjektiven "Wahrheit" der anderen (nicht zuletzt
auch der Kinder) auseinander zusetzen, ist zweifellos wichtig. In politischen
Versammlungen und bei Gesprächen im Freundeskreis dürfte es ähnlich
sein. Aber jeder, der spricht, glaubt an "seine" Wahrheit beziehungsweise
Richtigkeit ‑ falls er die anderen nicht täuscht. Offensichtlich
kann niemand auf eine solche regulative Idee verzichten, auch wenn er zum
Beispiel aus Höflichkeit "seine" Wahrheit nicht durchsetzen
will.
Aber Schule und Hochschule bedürfen dieser regulativen Idee zu ihrer institutionellen Legitimation. Wenn zum Beispiel die Schule nicht mehr den Anspruch erhebt, in ihrem Unterricht herauszufinden, "Wie es wirklich ist", dann kann man Schülern nicht mehr weismachen, dass Schule für sie von Bedeutung sei. Sich über etwas angeregt unterhalten kann man auch anderswo. Dass selbst die Wissenschaft Wahrheit und Richtigkeit immer nur annäherungsweise erreichen kann, ist kein Einwand, denn ohne eine solche Idee würde alles Denken in der bornierten Unmittelbarkeit von Kommunikationen stecken bleiben. Schule ist der soziale Ort und Unterricht das dabei nötige Verfahren, diese Borniertheit zu durchbrechen, indem Kommunikationen verpflichtet werden auf eine Idee, die außerhalb ihrer Grenzen liegt. Eine Schule, die dies aus dem Blick verliert und statt dessen die Kinder verwickelt lässt in ihrem gewohnten Denken, Reden und Meinen, pädagogisiert sie nur und enthält ihnen einen Anspruch vor, der sie ein Stück erwachsen machen könnte. Die unterrichtliche Autorität des Lehrers erwächst also nicht nur aus seiner fachlichen Kompetenz, sondern auch daraus, dass er diese regulativen Ideen geltend macht.
Nun hat aber der Unterricht nicht nur eine fachliche Dimension, sondern ‑ wie
bereits erwähnt ‑ auch eine normative. In allen Fällen, wo
unterschiedliche Bewertungen von Sachverhalten möglich sind, nimmt der
Lehrer eine andere Rolle ein. Über Bewertungen gibt es unterschiedliche
Meinungen, und diese Meinungen beruhen auf unterschiedlichen Erfahrungen.
Die Erfahrungen von Menschen sind aber grundsätzlich gleichberechtigt,
die des Schülers sind nicht "wertloser" oder "schlechter" als
die des Lehrers, sondern nur anders. Der Respekt vor anderen Meinungen ist
also der Respekt vor anderen Erfahrungen und das heißt: vor einem anderen
gelebten Leben. Auf dieser Ebene gibt es also von der Sachlage her ‑ und
nicht, weil der Lehrer es "aus pädagogischen Gründen" gewährt ‑ Gleichberechtigung
zwischen Schülern und Lehrern. Aber im Unterschied zur Sozialsituation
der Familie geht es in der Schule nicht um einen privaten Meinungsaustausch,
vielmehr steht hier der gleichberechtigte Austausch von Erfahrungen ebenfalls
unter einer die unmittelbare Kommunikation transzendierenden Idee, nämlich
der Idee des "richtigen gemeinsamen Lebens". Die individuelle
Erfahrung wird eingebracht mit dem Ziel, sie durch den Austausch oder auch
die Konfrontation mit anderen Erfahrungen weiterzuentwickeln, sie zu differenzieren
und zu präzisieren; insoweit gehört dieser Prozess zum Bildungsauftrag
der Schule. Darüber hinaus aber geht es um die Suche nach Lösungen
für das Gemeinsame des weiteren Zusammenlebens.
Diese objektivierende Perspektive muss der Lehrer einbringen, um zu
verhindern, dass es bei der unverbindlichen Privatheit eines Meinungsaustausches
bleibt. Schulischer Unterricht ist also in verschiedener Hinsicht gebunden
an "Ansprüche des Objektiven": Sachlich an die regulativen
Ideen von "Wahrheit" und "Richtigkeit" und normativ an
die regulative Idee des "richtigen gemeinsamen Lebens". Nur insoweit
der Unterricht sich diesen Ideen unterwirft, kann die Schule etwas Eigentümliches
zur Entfaltung der Fähigkeiten ihrer Schüler beitragen. Alles andere
machen die Familien, die Gleichaltrigen und die Massenmedien mindestens genauso
gut.
Fazit
Kinder müssen ihre Zukunft schon früh selbst verantworten, sie also verinnerlichen. Diese Tatsache bricht die Macht der Erwachsenen als Erzieher. Daraus muss sich ein neuer Umgang zwischen den Generationen in der Familie ergeben, aber auch eine Neubesinnung über die Aufgaben der Schule. Vor allem muss den Kindern ihre Verantwortung auch tatsächlich entgegen den Tendenzen einer allumfassend Pädagogisierung eingeräumt werden. Das gilt nicht zuletzt auch für die Schulleistungen. Ganz gleich, wie gut oder schlecht die Schule erscheinen mag, aus der Perspektive der Schüler ist sie dazu da, in einem begrenzten, aber wichtigen Bereich ihre Fähigkeiten zu entdecken, damit sich daraus eine Perspektive des künftigen Lebens entwickeln lässt.
Zur Entdeckung der Fähigkeiten gehört aber auch die Entdeckung der Grenzen, und mit beidem muss man leben lernen, beides zusammen erst lässt eine Perspektive für ein selbstverantwortetes Leben entstehen. Kinder haben heute auch außerhalb der Schule eine Fülle von Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Mit dem, was sie daraus machen, müssen sie auch existieren, ohne dass sie dafür andere ‑ zum Beispiel die Eltern ‑ haftbar machen können.
Erziehen heißt immer noch in erster Linie unterstützen und ermutigen, aber immer weniger, auch die Verantwortung für den Erfolg zu übernehmen. Die Kinder wollen nicht nur früh erwachsen sein, sie müssen es auch in einer Zeit, die die Mauern eingerissen hat, die ihre Kindlichkeit früher umgaben und schützten. So zu tun, als sei das anders ‑ das eben ist Pädagogisierung. Wir sollten die Kinder erwachsen sein lassen, ihnen die Verantwortung dafür so früh wie möglich übertragen und ihnen bei den daraus resultierenden Schwierigkeiten unsere Hilfe anbieten.
10. Rainer Winkel: Die Persönlichkeit des Lehrers
Der Lehrer im ersten Drittel (und z.T. noch bis in die 60er Jahre) dieses
Jahrhunderts hatte das Problem zu lösen: Wie verwirkliche ich mit
Hilfe der mir von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten
Autorität die gewünschte Disziplin, Ordnung, Leistung und Gesinnung?
Demgegenüber fragt sich der heutige Lehrer: Wie erreiche ich ohne
den Rückgriff auf Autorität selbstverantwortliches Handeln,
Offenheit, Engagement und kritisches Bewußtsein? Die einen waren
also gehaßte „Dompteure“ (im schlechteren) und respektierte „Autoritäten“ (im
besseren Fall). Die anderen sind entweder verzweifelte „Beziehungsarbeiter“ (sofern
sie noch nicht resigniert haben) oder fluchtbereite „Alternativisten“ (die
eher aufs Land ziehen als gewisse Konsequenzen - z.B. die Konsequenz
aus dem Irrtum, der behauptet(e), Freiheit und Regellosigkeit seien identisch
und jeder um Ordnung Bemühte ein rechtsradikaler Chauvi, wenn nicht
gar ein offenkundiger Faschist).
Es bleibt die Notwendigkeit inmitten vieler Möglichkeiten, die Persönlichkeit
des Lehrers zu bilden. Aber wie und - in welchen Ausmaßen?
Eine Abbildung und einige Erläuterungen
Einer der wichtigsten Aufsätze inmitten der ansonsten überquellenden
Literatur zur Lehrerpersönlichkeit stammt von Herbert
Gudjons [1],
dem es zum erstenmal gelungen ist, wesentliche Aussagen der psychoanalytischen
Theorie auf das Problem der Persönlichkeit des Lehrers so zu beziehen,
daß es pädagogisch sichtbar wird. Denn daran krankten bekanntlich
die älteren Lehrertypologien; sie klassifizierten und schrieben
fest, anstatt zu beschreiben und auf Veränderungen hin zu öffnen:
Wenn Christian Caselmann z.B. dem mehr der Sache zugewandten Lehrer das
Attribut logotrop zuordnete und den eher das Kind und seine Bedürfnisse
im Auge habenden einen paidotropen Lehrer nannte,
wenn die Waldorfpädagogik im Rückgriff auf Hippokrates von
sanguinischen, cholerischen, phlegmatischen und melancholischen Lehrern
spricht; die einen von intro- und extravertierten, die anderen von autoritären
oder laissez-faire-haften Erziehern reden ..., dann schweben all diese
Typisierungen in der Gefahr, daß in sie nicht(s) hineingelernt
werden kann - vor allem nicht durch die Betroffenen selbst. Genau da
setzt die Gudjons`sche Bemühung an. Denn selbstverständlich
gibt es „typische Züge“, „hervorstehende“ Merkmale
und „bleibende Eigenschaften“ des Lehrers. Und doch: Die
folgenden Erläuterungen wollen den von Gudjons aufgezeigen Neuansatz
aufnehmen und an einer entscheidenden Stelle fortführen.
Wer sich, bevor er hier weiterliest, einige Zeit in die obige Abbildung
vertieft, erkennt unschwer dies: Jeder Mensch spürt bestimmte Kräfte,
Bedürfnisse, Ängste, Grundhaltungen und Krankheitsgefahren
in sich und von seinen Mitmenschen her. Diese jeweilige Kraft zur, dieses
bestimmte Bedürfnis nach, manche Angst vor, eine bestimmte Grundhaltung
gegenüber sowie die eine oder andere Erkrankung an ... bilden ein
untrennbares und wechselseitig aufeinander wirkendes Ganzes, das lediglich
zum Zweck der Verständlichkeit im folgenden wie ein zu zergliederndes
Cluster von Merkmalen erläutert werden soll. Daß dabei die
Erkenntnisse von Fritz Riemann die theoretische Grundlage bilden, sei
ausdrücklich betont.[3]
Die Kraft zur Individuation, die Tendenz zur Selbstwerdung ist in jedem
Menschen vorhanden:Schon der Säugling lebt nicht nur mit der Realität
einer Mutter-Kind-Symbiose, sondern auch mit der Potentialität,
ein unverwechselbares eigenes Ich zu werden. Dazu freilich ist ein gewisses
Maß an Distanz zum Du nötig: Ich und Du sind nicht identisch
und deckungsgleich, sondern zwei Pole einer elliptischen Beziehung. Wird
nun dieses Bedürfnis nach Distanz gar nicht oder zu abrupt und überwältigend
befriedigt, entsteht Angst, genauer: „Die Angst vor Nähe“ (Schmidbauer),
davor: überhaupt Bindungen vertrauensvoll einzugehen, da sie entweder
die eigene Selbstwerdung bedrohen oder aber für den Aufbau des eigenen
Ich überflüssig sind. Besonders anfällig für solche
intentionalen Gehemmtheiten ist der werdende Mensch in der ersten, derjenigen
Phase also, in der Urvertrauen und basale Bindungen angestrebt, aber
auch erschwert und verhindert werden können. Schizothyme - also
markant (sich) abgrenzende - Verhaltensweisen können sich in einer
solchen Biographie zum Schutze der bedrohten Persönlichkeit ausbilden.
Wird nun diese Tendenz nicht aufgehalten, ein solches - zunächst
einmal völlig gesundes - Verhalten progredieren, extreme Ausmaße
annehmen, überwertig werden, dann schwebt ein solcher Mensch zumindest
in der Gefahr, in eine derjenigen Krankheiten zu taumeln, die wir dem
schizophrenen Formenkreis zuordnen.
Für alle anderen jedoch gilt: Menschen mit zur Individuation drängenden
Kräften, auf Distanz wertlegenden Bedürfnissen, vor allzu engen
Bindungen sie warnenden Ängsten sowie Menschen mit zur Abspaltung
unliebsamer Triebe, Gefühle und Gedanken tendierenden psychisch-sozialen
Gefährdungen entwickeln im Laufe ihres Lebens gewisse Grundhaltungen
und bringen diese ihre Persönlichkeit auch in ihren Beruf ein.
Soweit es sich um den pädagogischen handelt, könnten wir von
einem sachlich orientierten, eher kühlen und bedächtigen, um
Gerechtigkeit und Leistung bemühten Anspruchslehrer sprechen, der
nicht besser oder schlechter als seine Kollegen ist, sondern lediglich
anders. Problematisch wird diese Leherpersönlichkeit nur und erst
dann, wenn sie extreme Formen annimmt.
Um eben jene Übertreibung zu verhindern, kennen wir alle eine entsprechende
Gegenkraft in uns: die Kraft zur Hingabe an ein Du, aus der ein Bedürfnis
nach Nähe resultiert. Auch dieses aber muß entwickelt, erzogen,
gebildet werden, wenn die Angst vor der Ferne nicht überhand nehmen
soll. Wenn hier - vor allem in der oralen Phase - unnötige Versagungen
zugemutet werden, wer weder über den Mund (lat. Os,oris) noch seine
Hände genügend haben bzw. greifen (lat.captare)durfte, wessen
Besitzansprüche umgekehrt grenzenlos befriedigt wurden, wer gar
keine Frustrationen zu verarbeiten gelernt hat, wird auf Trennungen und
Versagungen weinerlich oder aggressiv reagieren.
Dieser Teil unserer Persönlichkeit sucht also Nähe, Wärme,
Verständnis und Liebe. Menschen, deren Kräfte, Bedürfnisse, Ängste
und Gefährdungen aus diesem Bereich heraus dominieren, konstituieren
eine Grundhaltung, die von einem Hang zum Emotionalen gekennzeichnet
ist. In der Schule werden sie gern als Kumpellehrer wahrgenommen, die
- in positiven Fällen - engagiert die Interessen von Schülern
vertreten, jedoch - in negativen Zusammenhängen - um die Gunst ihrer
Schüler buhlen.
Eine dritte Kraft in uns strebt nach Dauer und Kontinuität, will
Tradition und Konservation. Ein Bedürfnis nach Überschaubarkeit,
Regelhaftigkeit und Ordnung wird (vornehmlich in einer dritten Lebensphase)
grundglegt und kommt der Sehnsucht nach Erwartbarkeit und Übersichtlichkeit
entgegen. Wird es nicht oder nur unzureichend akzeptiert, mobilisiert
dies eine Angst vor der allzu raschen Vergänglichkeit, auf die oft
genug hektisch-panisch reagiert wird. Umgekehrt: Wo ein Kind (z.B. in
der Phase der Überwindung des unwillkürlichen Einnässens
und Einkotens) auf Ordnung, Regeln und Gehorsam gleichsam getrimmt wird,
ist die Gefahr groß, daß daraus krampfhafte Verhaltensweisen
und Einstellungen erwachsen, ja im Extremfall Zwangsneurosen entstehen.
Bleiben solche Übertreibungen hingegen aus, dann sorgt dieser Teil
unserer Persönlichkeit dafür, daß wir nicht chaotisieren
und sprunghaft-hektisch werden, sondern eine Haltung ausbilden, die gelassen
und konsequent inmitten von gelegentlich allzu großer Offenheit
auf Regelungen, Eindeutigkeiten und Überschaubarkeiten besteht.
Dominiert eine solche Einstellung bei einem Pädagogen, könnten
wir von einem Ordnungslehrer sprechen, der seine positiven Seiten im
Herstellen von strukturierter Gestaltung besitzt, in den negativen Zügen
jedoch den Pedanten und Ordnungsfanatiker ablegt.
Um eben jene Perversion zu verhindern, ist die Kultivierung einer vierten
Kraft (als Gegengewicht) nötig: die Kraft zur Veränderung,
zur Reform, zur Verbesserung. Nur Dauer hieße Erstarrung, nur Ordnung
bedeutet Leblosigkeit. Dieses Bedürfnis nach Neuheit, Freiheit und
Offenheit wird in derjenigen Phase besonders gelernt, in der die Beziehungen
des Kindes zu den Eltern und Geschwistern zum erstenmal problematisch
werden. Je nachdem, ob es den Vater und die Mutter als Konkurrenten oder
faire Partner, als Objekte von Libido und Destruktion oder als Subjekte
von Liebe und Aggression erfahren konnte, wird es entweder ödipal
fixiert bleiben oder ein auf Selbstbestimmung hin freigegebenes Wesen
werden können, wird es zu hysterischen (zur Schau stellenden) Reaktionen
neigen und in Konfliktfällen entsprechende Neurosen aktivieren oder
einen Gestaltungswillen dokumentieren, der die eigenen Rechte mit denen
anderer solidarisch auszutarieren versteht. Diese Grundhaltung in Richtung
Offenheit und Veränderung wird sich in allen Berufsgruppen finden.
Und auch in der Schule sind solche Freiheitslehrer nötig. Denn sie
verhindern Erstarrung und Friedhofsruhe, Abhängigkeit und Duckmäusertum,
Verabsolutieren sie ihre Einstellung jedoch, dann drohen Chaos und Rebellion,
Unverbindlichkeit und Gaukelei - von der Erziehung bis zur Unterrichtsvorbereitung.
Dies nun ist die entscheidende Stelle: Dem Lehrertyp entgeht man nicht
dadurch, daß man jedwede Akzentuierung und Profilierung vermeidet,
mit anderen Worten: alles sucht und nichts findet, harmoniesüchtig
jede Dissonanz scheut und alle Konflikte ausklammert. Nein, jeder Lehrer
soll und muß seinen „Charakter“, sein „Profil“,
seine individuelle „Persönlichkeit“ haben. Aber er
wird sie nur dann ausbilden können, wenn er das Extreme in sich
ebenso vermeidet wie das Nebulöse, dem Ichkult sich genauso wenig
hingibt wie der Diktatur des Man oder des Wir. Zu einer Persönlichkeit
wird nur derjenige Lehrer, dem alle vier Kräfte aufeinander angewiesene
Teile ein und derselben Biographie, Existens und Person sind; der keines
der divergierenden Bedürfnisse vernachlässigt oder verabsolutiert;
der jede Angst erst einmal zuläßt; und doch keine so weit
entfacht, daß sie in eine Krankheit umzuschlagen vermag. Kurz:
Vom Lehrertyp zur Lehrerpersönlichkeit kommen wir nur dann, wenn
jeder seine Eigenart bejaht und doch zum Zentrum hin sich orientiert,
d.h. nicht in Richtung der Pfeile schaut und quasi zentrifugale Aktivitäten
entfaltet, sondern der versucht, seine eigene Dominanz als Ausgleich
für andere Dominanzen in den Kreis eines spannungsgeladenen und
doch um den common sense bemühten Kollegiums einzubringen. Da mag
sich der eine eher „rechts oben“ oder „links unten“ verorten,
entscheidend ist seine Bereitschaft, den bzw. die jeweils anderen Kollegen
zuzulassen.
Eine solche Persönlichkeit könnte und würde ich einen
Antinomielehrer nennen, eben weil er kein Typ (mehr) ist, sondern weil
er einerseits die unverwechselbare Eigenart seiner Person sucht und ausbildet,
weil er andererseits aber auch die aus der Notwendigkeit anderer Persönlichkeiten
resultierenden Spannungen aus- und durchhält... .
Ein solcher Lehrer lebt nicht aus der permanenten „Kritik der Lehrerrolle“[4]
und doch wird er keine der ihm angetragenen und abverlangten Rollenerwartungen
kritiklos übernehmen. Er ist auch nicht jener „gebrochene
Lehrer“, der „gebrochenen Schülern auf die Beine zu
helfen"[5] versucht
(weil dies aber nicht gelingt, von einer Therapie in die andere flüchtet),
und doch wird er sensibel sein für Verletzungen, Ungerechtigkeiten
und persönliches Leid. Und schließlich ist er kein „Anti-Lehrer“ [6]
, dem Pädagogik allenfalls subversiv möglich erscheint, und dennoch
ist er kein bloßer Erfüllungsgehilfe von Staat und Gesellschaft.
Arbeitsauftrag:
- Fassen Sie die Vorstellungen Winkels von der Persönlichkeit des Lehrers zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch
- Lassen sich Ihrer Meinung nach die Äußerungen Winkels in einem Kausalschema darstellen (im Sinne von „wenn... -> dann...“ oder „Ursache -> Wirkung“) ?
- Wie können Sie – nach Winkel – vom Lehrertyp zur Lehrerpersönlichkeit werden ? Könnten Sie Winkels Aussagen – auf Sie selbst bezogen – akzeptieren ?
Literaturverweise
[1] Herbert Gudjons:Lehrerpersönlichkeit im Aufwind. In:Westermanns Pädagogische Beiträge,34(6/1982),S.249-252.
[2] Christian Caselmann:Wesensformen des Lehrers (Original 1949) Stuttgart:Klett 4.1970
[3] Fritz Riemann:Grundformen der Angst, München-Basel:Reinhardt 1. Auflage 1975,13. Auflage 1981.
[4] Arno Combe:Kritik der Lehrerrolle.München:List 1971.(Combe ist - im Gegensatz zu den beiden weiter oben zitierten Autoren Ziehe und Bastian - Jg.1940 und einer der prominentesten Vertreter der 68er-Generation.Vgl. auch seine beiden folgenden Bücher:Krisen im Lehrerberuf. Bensheim: pädex Verlag 1979. Alles Schöne kommt danach. Die jungen Pädagogen. Reinbek:Rowohlt 1983.
[5] ders. In: H.Stubenrauch: a.a.O., S. 196f.
[6] ders.: a.o.O. S.193
11. Hans Christian Thalmann: Den Schulalltag bestehen.
Psychohygiene des Lehrerberufes.
Ein Fall
Es handelt sich dabei um die Unterrichtsbeobachtungen zweier Studentinnen bei einer Junglehrerin. Elke B., die, da sie mit den Studentinnen befreundet ist, in dem Bericht mit ihrem Vornamen Elke erscheint. Berichtet wird über eine Geschichtsstunde in einer Hauptschulklasse.
„Zu Beginn der Stunde teilt Elke einen Arbeitsbogen aus, den die
Schüler in Partnerarbeit ausfüllen sollen. Der Inhalt scheint
diese nicht zu interessieren, sie bestürmen Elke nur mit formalen
Fragen: ’Welche Farbe sollen wir nehmen? Sollen wir Linien ziehen?
Wie lange haben wir Zeit?’ Sie sind es offensichtlich gewohnt,
nach den Befehlen des Lehrers Arbeitsaufträge auszuführen,
und verlangen entsprechend, daß der Lehrer genau vorausbestimmt,
was sie tun sollen.
Elke erfüllt diese Erwartungen jedoch nur teilweise. Schon am Anfang
verteilt sie zunächst das falsche Arbeitsblatt. Sie ist unsicher,
kann aus Nervosität die Stelle im Geschichtsbuch, die die
Schüler als Hilfe verwenden sollen, nicht finden und gibt unangemessene
Arbeitsaufträge. Daraufhin entsteht mehr und mehr Unruhe in der
Klasse. Auf die aggressiven Fragen der Schüler ‘Was sollen
wir den machen?’ reagiert Elke mit der Antwort:’ Überlegt
doch selbst’... .
Nach und nach nützen immer mehr Schüler den von Elke gewählten
Freiraum und ihre Unsicherheit aus und entwickeln Taktiken, um den Unterricht
gezielt zu boykottieren. So behaupten sie plötzlich, ihre Geschichtsbücher
nicht mitgebracht zu haben, weil Elke dies am Tag zuvor nicht angekündigt
habe. Gleichzeitig lassen einige ihre Bücher unter der Bank verschwinden.
Elke durchschaut das Spiel nicht, glaubt, sie hat es tatsächlich
vergessen und geht daran, die vorhandenen Bücher zu verteilen, die
jedoch dauernd wandern und zwischendurch verschwinden.
Elke wird zunehmend nervöser, scheint keinen Überblick mehr
zu haben und reagiert auf den immer stärker werdenden Krach persönlich
betroffen. Sie versucht, die Disziplin durch sehr laute Befehle, Ermahnungen
und Drohungen wiederherzustellen. Sie duldet jetzt nicht mehr den geringsten
Regelverstoß, ohne darauf einzugehen, wodurch sie immer beschäftigter
und aggressiver wird und sich in weitere Widersprüche verwickelt.
So verbietet sie z.B. einem Schüler das Kaugummikauen zuerst mit
der Begründung, daß es der Direktor verboten habe .’Deshalb
darf ich dir das nicht durchgehen lassen.’ Als der Schüler
jedoch jetzt offen provozierend weiterkaut, schreit sie ihn an: „Diese
ekelhafte Kaugummikauerei kann ich nicht mehr ertragen“ - und wirft
ihn aus der Klasse. Während sie vorher das Verbot mit ihrer Abhängigkeit
vom Schulleiter begründet hat, wird jetzt deutlich, daß sie
es selbst emotional vertritt.
Als sie sich wieder beruhigt hat, appelliert sie an die Einsicht der
Schüler in die Notwendigkeit einer funktionaler Disziplin . sie
läßt dabei offen, daß sie selbst unter Druck steht.
Ich muß doch für einen geregelten Unterricht sorgen,sonst
kreige ich Ärger. Da die Schüler diese Erklärung oder
Entschuldigung offensichtlich nicht verstehen und weiter laut sind, fällt
Elke wieder in den autoritären Stil zurück und reagiert derart
rigide und willkürlich, daß die Funktionalität der geforderten
Ordnung nicht ersichtlich ist. Die Schüler scheinen sie jedoch nicht
ernst zu nehmen und äffen ihr autoritäres Verhalten nach, so
daß sich gegen Ende der Stunde die Situation derart eskaliert hat,
daß der Unterrichtsstoff vollkommen verlorengeht. Ein Lernprozeß bei
den Schülern ist sehr unwahrscheinlich. Elke verläßt
die Klasse völlig erschöpft.“
Rollenanalyse
Dieser Bericht macht zweierlei deutlich: einmal, wie sich im Verlauf einer Unterrichtsstunde durch Unsicherheit und Verärgerung des Lehrers und durch die Disziplinlosigkeit der Schüler das Klima derartig verschlechtern kann, daß ein effektives Lernen unmöglich wird; zum anderen, daß ein Lehrer auf Dauer eine derartige Belastung psychisch nicht durchhalten kann. Es läßt sich auf Grund des Berichtes leicht vorstellen, daß die Lehrerin die nächste Unterrichtsstunde in dieser Klasse mit noch größerer Unsicherheit beginnen wird und daß die Schüler darauf mit noch größerer Feindseligkeit und Apathie reagieren werden. Ein Teufelskreis schließt sich, der Lehrern und Schülern den Unterricht zur Qual machen kann.
Aus Befragungen von Schülern wird deutlich, daß diese sich beim Lehrer folgende Verhaltensweisen wünschen: Kooperation mit den Schülern, demokratische Haltung, Freundlichkeit, Rücksichtnahme.
Eine Untersuchung von Ruppert erbrachte als Rangfolge von Lehrereigenschaften,
die ihn im Schülerurteil sympathisch machen: Liebe - Güte -
Wohlwollen - Frohsinn - Gerechtigkeit - Verständnis - Ordnung. Schüler
erhoffen sich also einen liebevollen, hilfsbereiten, partnerschaftlichen
Lehrer. Genau diese Einstellungen den Schülern gegenüber haben
sehr viele Junglehrer; sie haben ihren Dienst mit der festen Absicht
angetreten, sich Schülern gegenüber freundlich, partnerschaftlich, „menschlich“ zu
verhalten. Gerade mit diesen Einstellungen aber erleidet der Lehrer häufig
Schiffbruch. Die Schüler scheinen ein großzügigeres,
weniger strafendes, schülerorientiertes Veralten des Lehrers
als Schwäche auszulegen, und sie bestrafen seine guten Absichten
mit Disziplinlosigkeit. Der Lehrer reagiert darauf enttäuscht und
neigt rasch dazu, mit „bewährten“ Zwangsmitteln die
Disziplin wiederherzustellen. Die Aufforderung einzelner Schüler
an den Lehrer „endlich einmal durchzugreifen, sich nicht alles
gefallen zu lassen“, bestärkt den Lehrer dann in seiner Auffassung,
daß die Schüler von ihm eher autoritäres als partnerschaftliches
Verhalten erwarten, daß schulisches Lernen eher ermöglicht
wird, wenn man den Schülern weniger Freiräume läßt.
Der Widerspruch zwischen den Erwartungen und dem Verhalten der Schüler
ist zu erklären durch deren Verunsicherung, die ein Lehrer bewirkt,
wenn er kein typisches Rollenverhalten zeigt. Durch Provokationen und
Disziplinlosigkeiten wollen die Schüler den Lehrer zwingen, doch
die Rolle des „typischen Lehrers“ zu spielen, daß heißt,
sich autoritär zu verhalten, Zwangsmittel anzuwenden.
Die Schüler haben die Schule nun einmal als Zwangssituation kennengelernt:
Klassenarbeiten, Zeugnisnoten, die Frage der Versetzung und Nichtversetzung,
der Numerus clausus u.a. werden vom Schüler als permanente Bedrohung
empfunden, die Angst auslöst. Für diese Angst wird der Lehrer
verantwortlich gemacht, in dem sich die Zwänge des Schulsystems
personalisieren. Ein Lehrer, der versucht, im täglichen Umgang mit
den Schülern weniger Druck auszuüben und die Selbständigkeit
der Schüler anzuregen, muß diesen einerseits unglaubwürdig
erscheinen, da er ja doch nur partiell die Schülerängste vermindern
kann - er ist selbst gezwungen, zu beurteilen, Klassenarbeiten
zu schreiben, Noten zu geben - andererseits stellt er für die Schüler
ein geeignetes Ventil dar, dem sonst vorherrschenden schulischen Druck
auszuweichen, ja sich an ihm als Stellvertreter für das Schulsystem
zu rächen. Durch Disziplinlosigkeit im Unterricht aber wird ein
effektives Lernen verhindert, und die Schülerleistungen sinken.
Damit aber werden die schulischen und beruflichen Chancen der Schüler
verringert, wofür von Eltern und Schülern wieder der Lehrer
verantwortlich gemacht wird, der es nicht versteht, einen guten Unterricht
zu halten. Trotz bester Absichten erlebt der Lehrer eine Kette von Mißerfolgen,
die seine ursprünglichen Einstellungen und Überzeugungen in
Frage stellen und ihn sehr rasch zu Verhaltensänderungen veranlassen
können
Das oben dargestellte Beispiel macht deutlich, wie selbst innerhalb
einer Unterrichtsstunde das ursprünglich eher partnerschaftliche
Verhalten einer Lehrerin in stark autoritäres umschlägt. Die
Kluft zwischen Theorie und Praxis zeigt sich hier ganz konkret. Die Folge
ist eine starke Verunsicherung des Lehrers, der sich aufgrund seiner
ursprünglichen Einstellungen nicht mehr mit seinem eigenen - autoritären
- Verhalten identifizieren kann. Damit empfindet der Lehrer seine Tätigkeit
als entfremdete Arbeit. „Lehrerarbeit ist faktisch entfremdete
Arbeit; den an ihn gestellten bzw. den selbst gestellten Ansprüchen
kann der Lehrer gar nicht gerecht werden. Die Gründe für sein
Scheitern wird er zunächst bei sich selbst suchen. Das ist aber
auf lange Sicht nicht zu ertragen, so daß er sie schließlich
seinen Schülern, von denen er sich enttäuscht sieht und die ‘es
ja gar nicht anders haben wollen’ zuschreibt...“. Ein gegenseitiges
Mißverständnis ist die Ursache für Konflikte zwischen
dem Lehrer und seinen Schülern. „Die Schüler haben die
guten Absichten des Lehrers nicht erkannt, der Lehrer hat die schlechten
Erfahrungen der Schüler mit der Schule nicht richtig eingeschätzt...
. Das Ergebnis ist gegenseitige Enttäuschung.“
Wichtige Vorbedingung dafür, daß der Lehrer an der Schule
nicht verzweifelt, daß er nicht seine berechtigten Überzeugungen
aufgibt, ist daher eine genaue Kenntnis der Ursachen des Verhaltens seiner
Schüler; auf dieser Grundlage wird es ihm möglich sein, zwischen
persönlichen und systembedingten Ursachen von Konflikten zu differenzieren
und eigene Verhaltensunsicherheiten abzubauen. Hier haben - nachdem bisher überwiegend
die Notwendigkeit einer Praxisorientierung betont wurde - theoretische
Veranstaltungen in der Lehreraus- und -weiterbildung einen wichtigen
Platz.
12. Reinhard Tausch &. Anne-Marie Tausch :
Wesentliche Verhaltensdimensionen von Lehrern, Dozenten, Erziehern
in Erziehung und Unterricht
Eine wesentliche Frage vieler Lehrer und Erzieher ist : Wie sollen wir uns in der alltäglichen Unterrichts- und Erziehungspraxis verhalten, damit bei Kindern und Jugendlichen diejenigen Erfahrungen und Vorgänge stattfinden, die wir und z.T. sie selbst anstreben ? Durch welches alltägliche Verhalten von uns Lehrern – Erziehern wird das prosoziale Verhalten der Schüler, ihre gefühlsmäßige Reife und ihr intellektuelles - schöpferisches Verhalten gefördert ? Durch welches Verhalten von uns befähigen wir sie, später als Erwachsene einen sinnvollen Gebrauch der gewährten Freiheiten zu machen und das Ausmaß an sozialem Verhalten, Engagement und Selbstdisziplin zu verwirklichen, das bei vielen Bürgern vorhanden sein muß, wenn demokratische Gesellschaftsordnung nicht in Chaos oder Diktatur enden sollen ?
Die Hauptergebnisse empirischer Forschungen in den letzten 15 Jahren ermöglichen wissenschaftliche Antworten auf diese Kardinalfrage :
- Das so vielfältig erscheinende Verhalten von Lehrern – Erziehern, das durch Beobachter oder durch ihre Schüler nach einer Vielzahl von Einzelmerkmalen eingeschätzt wird, läßt sich auf Grund des Zusammenhangs der Merkmale in sog. Dimensionen (Merkmalsbündel) ordnen. Diese zusammenfassende Ordnung erfolgt durch das statistische Verfahren der Faktorenanalyse.
- 3 Hauptdimensionen charakterisieren danach das wesentliche soziale und emotionale (zwischenmenschliche) Lehrerverhalten : Die Emotionale Dimension, die Lenkungs - Dimension und die Dimension Nicht – dirigierende fördernde Aktivität
- 2 weitere Verhaltensdimensionen – begründet von Carl Rogers – erwiesen sich als wesentlich : Emphatisches Verstehen der inneren Welt des Jugendlichen sowie Echtheit / Unechtheit im Verhalten von Lehrern – Erziehern
- Unterschiedliche Ausmaße der Verwirklichung der 5 Dimensionen bei Lehrern – Erziehern lösen deutlich unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliches Verhalten bei Kindern und Jugendlichen aus. Bestimmte verwirklichte Ausmaße der Dimensionen führen zu förderlichen – konstruktiven Erfahrungen und Vorgängen bei Schülern, andere Ausmaße dagegen zu beeinträchtigenden – destruktiven Vorgängen.
- Die Einschätzung des alltäglichen Lehrer – Erzieherverhaltens in diese Dimensionen kann recht zuverlässig durch Kollegen, neutrale Beobachter oder durch die Schüler – Jugendlichen erfolgen.
- Das Ausmaß der Verwirklichung der Dimensionen ist bei verschiedenen Lehrern oft deutlich unterschiedlich. Die Unterschiede sind über die Zeit hinweg in verschiedenen Fächern und Klassen relativ konstant. Die Unterschiede hängen wesentlich mit Persönlichkeit und Ausbildung der Lehrer zusammen, weniger mit den äußeren Bedingungen des Unterrichts und der Erziehung.
- Bei einem Teil der Lehrer – Erzieher besteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem verwirklichten Ausmaß in den Verhaltensdimensionen und dem angestrebten erwünschten Ausmaß. – Bestimmte Ausbildungserfahrungen können Lehrer – Erzieher jedoch befähigen, das angestrebte Verhalten allmählich in größerem Ausmaß zu verwirklichen.
- Das Informations- und Instruktionsverhalten von Lehrern kann entscheidend durch vier weitere Dimensionen der Verständlichkeit charakterisiert werden : Einfachheit, Kürze – Prägnanz, Gliederung – Ordnung sowie anregende Stimulanz. Ein hohes oder geringes Ausmaß in diesen 4 Dimensionen im Sprachverhalten von Lehrern zeigt deutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Verstehens- und Behaltensleistungen der Schüler
Die Dimension des zwischenmenschlichen Verhaltens
Im Folgenden sind die Hauptdimensionen (Merkmalsbündel) emotionalen
und sozialen Verhaltens von Lehrern – Erziehern kurz dargestellt.
Mit Hilfe 5stufiger Einschätzungsskalen können Kollegen, Beobachter
und Schüler feststellen, welches Verhalten wir Lehrer – Erzieher
verwirklichen und ob es dem angestrebten Verhalten entspricht.
Das wünschenswerte Ausmaß des Lehrerverhaltens ist
ferner bei jeder Dimension mit angegeben. Es hängt von den Erziehungszielen,
von den Vorgängen, die wir durch unser Verhalten bei Jugendlichen
anstreben und wünschen. Diese Erziehungsziele sind hier aus Platzgründen
nicht aufgeführt.[1] – Konkreter
und unverfälschbarer als Erziehungsziele scheinen uns heute Grundqualitäten
menschlichen Zusammenlebens. Durch sie kann in jedem Moment des
Unterrichts, der Familien- oder Heimerziehung festgestellt werden,
welches zwischenmenschliche Geschehen in welchem Ausmaß verwirklicht
wird. Hier ist keine Ausrede mehr möglich, daß ein inhumanes
Erziehungsverhalten, z.B. die Demütigung von Kindern, notwendig
sei und nur dazu diene, hohe erzieherische Ideale zu erreichen. Diese
Grundqualitäten zwischenmenschlichen Zusammenlebens haben wir
ebenfalls eingehend dargestellt [2].
Es sind folgende 5 Grundqualitäten : Selbstbestimmung und individuelle
Freiheit – Unantastbarkeit der Würde der Person – soziale
Ordnung – Förderung der Leistungsfähigkeit – Transparenz
wesentlicher Entscheidungen.
Emotionale Dimension[3]
Mißachtung, Kälte, Abweisung |
-2 |
-1 |
0 |
1 |
2 |
Achtung, Wärme, Zuneigung |
geringschätzig, mißachtend, teilnahmslos, abwertend, kalt, verständnislos, abweisend, entmutigend, sozial – irreversibel, unfreundlich, verschlossen, mißtrauisch |
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wertschätzend, achtend, anteilnehmend, anerkennend, warm, ermutigend, sozial – reversibel, freundlich, offen, vertrauend |
Die Auswirkung von Achtung – Wärme – Zuneigung auf Jugendliche : Größeres Ausmaß an Selbstachtung (ein sehr bedeutender zentraler psychischer Vorgang), positive emotionale Grundstimmung, günstigeres Selbstkonzept, günstigere Grundbedingungen für allgemeines psychischer Funktionieren und seelische Gesundheit, Lernen von warmem – zugewandtem emotionalem Verhalten und der Verwirklichung gegenüber anderen durch Wahrnehmung dieses Lehrer – Erzieher – Verhaltens.
Auswirkung von Mißachtung – Kälte – Abweisung : Verminderung der Selbstachtung, Gefühle der Minderwertigkeit, Anstieg von Psychoneurotizismus, Verminderung der allgemeinen psychischen Funktionsfähigkeit und Beeinträchtigung seelischer Gesundheit, Lernen von geringschätzigem Verhalten und Verwirklichung gegenüber anderen durch Wahrnehmung eines derartigen Lehrerverhaltens.
Notwendig zur Erreichung der Erziehungsziele und der Grundqualitäten menschlichen Zusammenlebens ist ein hohes Ausmaß von Achtung – Wärme – Zuneigung.
Lenkungs - Dimension [4]
Keine Lenkung – Dirigierung - Kontrolle |
1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
Hohes Ausmaß Lenkung – Dirigierung - Kontrolle |
Keine Befehle, keine Anordnungen, keine
Vorschriften u.ä.; |
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Hohes Ausmaß von Befehlen, Anordnungen Aufforderungen, Vorschriften, Verboten, Kontrollen, Fragen, Zwang, häufiges längeres Reden |
Auswirkung eines großen Ausmaßes der Dimension lenkende – dirigierende Aktivität : Überwiegend reaktives Verhalten der Kinder – Jugendlichen bzw. Studierenden, geringes Ausmaß an Selbstbestimmung, kein Erlernen von sinnvollem Gebrauch der Freiheit durch selbstbestimmtes selbstgesteuertes Verhalten. Ferner Wahrnehmungslernen der Jugendlichen, andere Menschen in hohem Ausmaß zu dirigieren – lenken.
Auswirkung eines fehlenden Ausmaßes der Dimension lenkende - dirigierende Aktivität : Fast völlige Selbstbestimmung und individuelle Freiheit des Kindes – Jugendlichen. Jedoch öfters nur zeitweise und in bestimmten Situationen möglich. Bei gleichzeitiger emotionaler Mißachtung – Kälte – Abweisung sowie fehlender oder geringer nicht – dirigierender Aktivität des Erziehers – Lehrers sind destruktive Effekte bei Kindern und Jugendlichen wahrscheinlich.
Zur Erreichung der Erziehungsziele und der Grundqualitäten menschlichen Zusammenlebens ist ein geringes, mäßiges Ausmaß von Leitung und Dirigierung angemessen.
Ein hohes Ausmaß der emotionalen Dimension sowie ein geringes Ausmaß der Lenkungsdimension sind notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingungen für eine angemessene Erziehung und Unterrichtung. Zusätzlich erforderlich ist ein hohes Ausmaß der Aktivität und des Einsatzes von Lehrern – Dozenten – Eltern, jedoch nicht in Form von Dirigierung – Führung – Kontrolle.
Nicht – dirigierende fördernde Aktivität [5]
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1 |
2 |
3 |
4 |
5 |
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Nicht dirigierende fördernde Aktivität bei Lehrern – Erziehern ist meist erst in geringem Ausmaß gegeben. Deshalb einige konkrete Beispiele. Folgende nicht – dirigierende Tätigkeiten von Lehrern sind u.a. in hohem Maße notwendig :
- Häufige Verwirklichung kurzzeitiger aufgabengleicher Kleingruppenarbeit im Unterricht. Ohne häufige Kleingruppenarbeit ist es für den Lehrer fast unmöglich, ein hohes Ausmaß an Achtung – Wertschätzung – Zuwendung sowie ein geringes Ausmaß an Lenkung – Dirigierung zu verwirklichen. Die konkrete Durchführung dieser aufgabengleichen kurzzeitigen Kleingruppenarbeit haben wir eingehend beschrieben (a.a.O. S. 235 – 242)
- Häufiges prosoziales Verhalten des Lehrers als Modell für das Wahrnehmungslernen des Jugendlichen (a.a.O. S. 49 – 73)
- Gewährung verständnisvoller, hilfreicher Gespräche bei persönlichen Problemen Jugendlicher, sowie zur Verminderung persönlicher Ängste (a.a.O. S. 349 ff.)
- Herstellung einfach verständlicher Skripten – Lehrtexte
- Verwirklichung eines hohen Ausmaßes der Dimension der Verständlichkeit bei der Wissensübermittlung im Schulunterricht
- Einsatz von älteren Schülern als Tutoren für jüngere Schüler (S. 247) auch zur Förderung der Selbstachtung älterer Schüler.
- Hohes Ausmaß an Aktivität eigenen Lernens von Lehrern. Lehrer – Erzieher sind dann ein günstiges Modell für das Wahrnehmungslernen der Jugendlichen, wenn sie selbst häufig als Lernende wahrgenommen werden. (S. 391 – 395)
- Größeres Ausmaß an Aktivität hinsichtlich der eigenen Selbstöffnung und der eigenen Selbstexploration im Kontakt mit Schülern.
- Größere Aktivität hinsichtlich Angeboten, Alternativvorschlägen u.a. für die Aktivität von Jugendlichen im Gebiet des Sports, der Freizeit etc.
- Intensive Bemühungen um Unterrichtsinhalte, die für das jetzige und spätere Leben von größerer persönlicher Bedeutung sind.
- Engagement und Aktivität in der Übernahme sozialer Verantwortung für andere; hierdurch ist der Lehrer – Erzieher ein günstiges Modell für das Wahrnehmungslernen sozialer Verantwortung der Jugendlichen
- Sorge und Engagement hinsichtlich hinreichender materieller Bedingungen der Jugendlichen.
Zur Erreichung der Erziehungsziele und der Grundqualitäten menschlichen Zusammenlebens ist ein mittleres bis hohes Ausmaß nicht – dirigierender fördernder Aktivität von Lehrern – Erziehern notwendig.
Dimension Echtheit [6]
Unechtheit |
-2 |
-1 |
0 |
1 |
2 |
Echtheit |
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Auswirkungen von Echtheit des Lehrers – Erziehers auf Jugendliche; Echtheit und Fassadenfreiheit des Jugendlichen wird gefördert, Jugendliche kommen in größeren Kontakt zu ihren Gefühlen und ihrem Selbst, Verminderung der Tendenz, später „Träger“ von Ämtern und Ideologien zu werden, tiefe konstruktive menschliche Begegnung Erzieher – Jugendlicher, wenn Erzieher zugleich hoch in der emotionalen Dimension sowie in tiefgreifendem Verständnis.
Auswirkungen von Unechtheit des Lehrers – Erziehers : Jugendlicher ist sich im unklaren über Person des Erziehers, entwickelt selbst Fassade, vermindert Kontakt zu eigenen Gefühlen und zu seinem Selbst, Tendenz zu Konformismus und Opportunismus, Zunahme innerer Spannungen, Zunahme der Diskrepanz zwischen innerem Erleben und Verhalten – Äußerungen bei Schülern, Förderung von Neurotizismus. Bei Unechtheit des Erziehers wirkt sich emotionale Anteilnahme und Interesse sowie eine engagierte Aktivität eher destruktiv und angsterregend auf den Jugendlichen aus.
Ein deutliches Ausmaß von Echtheit des Erziehers ist gemäß den Annahmen und Befunden eine notwendige Bedingung für eine konstruktive Entwicklung der Persönlichkeit des Jugendlichen. Wichtig ist: Echtheit erfordert nicht, daß eine Person alles in dem Augenblick äußert, was augenblicklich in ihr vorgeht, was sie fühlt und denkt. Sondern Echtheit meint : was eine Person äußert oder wie sie sich verhält, dies steht in Übereinstimmung mit ihren inneren Erlebnissen. Ferner : Echtheit bei gleichzeitiger emotionaler Kälte, Passivität und bei keinem tiefgreifenden Verständnis für die andere Person ist destruktiv.
Dimension tiefgreifendes Verstehen der inneren Welt des Kindes - Jugendlichen [7]
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3 |
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Auswirkungen eines hohen Ausmaßes der Dimension tiefgreifendes Verstehen : Erfahrung tiefen Verstandenwerdens beim Jugendlichen, weitere Aussagen des Jugendlichen über bedeutsame Aspekte seiner inneren Erlebniswelt (Selbstexploration), Förderung der psychischen Funktionsfähigkeit, Abnahme psychischer Beeinträchtigungen, Zunahme innerer Ruhe, gefühlsmäßiger Sicherheit und körperlicher Entspannung, größeres Vertrauen zu sich selbst. Diese Auswirkungen treten nur ein bei gleichzeitig größerem Ausmaß von Wärme – Wertschätzung sowie Echtheit.
Auswirkungen fehlenden tiefgreifenden Verstehens der inneren Welt des Partners : keine Öffnung des Jugendlichen, keine Erfahrung des Verstandenwerdens, keine Selbstexploration, Zunahme von Fassadenhaftigkeit, Zunahme innerer Spannungen, Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit.
Ein hohes Ausmaß in der Dimension tiefgreifendes Verstehen der inneren Welt des Jugendlichen durch den Erzieher ist entsprechend den Erziehungszielen und Grundqualitäten zwischenmenschlichen Zusammenlebens sehr wünschenswert.
Dimensionen verständlicher Wissens- und Informationsübermittlung
Hierzu haben wir in den letzten 3 Jahren intensive empirische Untersuchungen
durchgeführt. Denn bei unseren Unterrichtsbesuchen stellten wir
häufig fest : Manche Lehrer verhalten sich gegenüber den Schülern
ihrer Klasse achtungsvoll – wertschätzend – warm sowie
wenig lenkend. Aber die Art, wie sie sich beim Lehrervortrag ausdrücken,
wie sie etwa eine Rechenprozedur oder eine Geschichtsvorgang erklären,
war oft so kompliziert, so ungegliedert und so langatmig – weitschweifig,
daß die Schüler den Unterrichtsstoff schwer verstanden und
dann unruhig und unzufrieden wurden. Daraus ergaben sich häufig
Konflikte Lehrer – Schüler. Lehrer meinten dann fälschlich,
die Konflikte würden durch ihr achtungsvolles – wertschätzendes
sowie wenig lenkendes Verhalten verursacht, während in Wirklichkeit
die Konflikte durch die unbefriedigende Art der Informationsdarbietung
bedingt wurden.
Diese Untersuchungen über die Dimensionen der Verständlichkeit
bei der Wissensübermittlung sind in einem Buch mit einem Selbsttrainingsprogramm
für Lehrer dargestellt
Ergebnis der Untersuchungen : Das Ausmaß von 4 Dimensionen in
Lehrtexten sowie in der mündlichen Informationsdarbietung von Lehrern
ist entscheidend für das Ausmaß des Verstehens und Behaltens seitens
der Schüler – Studierenden.
Im folgenden eine kurze Darstellung der Dimensionen aus diesem Buch samt
Einschätzungsskalen :
Einfachheit
Einfachheit |
+2 |
+1 |
0 |
-1 |
-2 |
Kompliziertheit |
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Gliederung - Ordnung
Gliederung - Ordnung |
+2 |
+1 |
0 |
-1 |
-2 |
Ungegliedertheit, Zusammenhanglosigkeit |
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Kürze - Prägnanz
Kürze - Prägnanz |
+2 |
+1 |
0 |
-1 |
-2 |
Weitschweifigkeit |
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Zusätzliche Stimulanz
Zusätzliche Stimulanz |
+2 |
+1 |
0 |
-1 |
-2 |
Keine zusätzliche Stimulanz |
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Die Auswirkung der 4 Dimensionen der Verständlichkeit auf das Verständnis und Behalten gemäß den Unterrichtsbefunden : Die wichtigste Dimension für Verständnis und Behalten ist Einfachheit. Eine hohe positive Ausprägung in dieser Dimension ist für ein leichtes Verständnis erforderlich. – Von erheblicher Bedeutung ist auch die Dimension Gliederung – Ordnung. Eine hohe Ausprägung ist auch hier unerläßlich. – Die Dimension Kürze – Prägnanz behindert in beiden Extrembereichen das Verstehen und Behalten (zu kurz – gedrängt oder zu langatmig). Da Optimum liegt mehr in der Mitte. – Die Dimension zusätzliche Stimulanz ist verständnisfördernd bei gleichzeitiger hoher Ausprägung in Gliederung – Ordnung. Bei ungegliederten, ungeordneten Texten trägt sie jedoch zur Verwirrung des Lesers bei.
Arbeitsauftrag:
- Fassen Sie die hier vorgestellten Verhaltensdimensionen zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch.
- Ordnen Sie Ihr eigenes erzieherisches Tun in verschiedenen Unterrichtssituationen mit Hilfe eines Koordinatenkreuzes grafisch ein, indem z.B. die X-Achse mit der emotionalen Dimension belegen, die Y-Achse mit der Lenkungsdimension und Sie Ihr pädagogisches Tun – auf diese beiden Dimensionen reduziert – als Aktionsfeld dort eintragen.
- Sind Ihrer Meinung nach die hier aufgeführten Verhaltensdimensionen geeignet, eine Lehrperson hinreichend zu erfassen oder fehlen Ihnen wichtige Dimensionen ?
Literatur:
[1] s. Tausch / Tausch : Erziehungspsychologie, 1973, S. 7 - 10
[2] a.a.O. S. 13 - 17
[3] a.a.O. S. 317 ff.
[4] a.a.O. S. 204 ff.
[5] a.a.O. S. 165 ff.
[6] a.a.O. S. 336 ff.
[7] a.a.O. S. 344 ff.
[8] Langer / Schulz v. Thun / Tausch : Verständlichkeit in Schule Verwaltung, Politik, Wirtschaft; München 1974
Langer, I., Schulz v. Thun,F. u. Tausch, R.: Verständlichkeit in Schule, Verwaltung, Politik, Wirtschaft; mit einem Selbsttrainingsprogramm, Reinhard, München, 1974
Rogers, C. R.: Encounter-Gruppen. Das Ergebnis der menschlichen Begegnung, Kindler, München 1974
Tausch, R. u. Tausch, A.: Erziehungspsychologie. Hogrefe, Göttingen, 7. Auflage 1973
13. Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik
Experimente über den sozialen Raum (1939)
- Ich bin der Überzeugung, daß es möglich sei, in der Soziologie Experimente vorzunehmen, die mit dem gleichen Recht als wissenschaftliche Experimente zu bezeichnen sind wie die in der Physik und der Chemie. Ich bin überzeugt, daß es einen sozialen Raum gibt, der alle wesentlichen Eigenheiten eines wirklichen empirischen Raumes besitzt und der genau so viel Aufmerksamkeit von seiten der Forscher auf dem Gebiet der Geometrie und Mathematik verdient wie der physikalische Raum, obwohl er nicht physikalischer Art ist. Die Wahrnehmung des sozialen Raumes und die experimentelle und begriffsmäßige Erforschung der Dynamik und der Gesetze der Vorgänge im sozialen Raum sind von grundlegender theoretischer und praktischer Bedeutung.
- Es ist allgemein bekannt, daß die Größe des Erfolges, den eine Lehrerin im Klassenzimmer hat, nicht nur von ihrer Geschicklichkeit sondern zu einem großen Teil von der Atmosphäre abhängt, die sie schafft. Diese Atmosphäre ist etwas Unfaßbares; sie ist eine Eigenheit der sozialen Lage im Ganzen und ließe sich wissenschaftlich messen, wenn man von diesem Punkt aus an sie heranginge. Zunächst wählte Lippitt daher für seine Untersuchung einen Vergleich zwischen einer demokratischen und einer autokratischen Atmosphäre. Der Zweck seines Experimentes war nicht, irgendeine bestimmte Autokratie oder Demokratie nachzumachen oder eine „ideale“ Autokratie oder Demokratie zu untersuchen, sondern Gebilde zu schaffen, die Einblicke in die zu Grunde liegende Gruppendynamik geben würden. Zwei Gruppen von Jungen und Mädchen von 10 und 11 Jahren wurden aus einer Gruppe daran interessierter freiwilliger Teilnehmer zweier verschiedener Schulklassen für eine Klub ausgewählt, der Masken herstellen sollte. Mit Hilfe des Moreno-Tests wurden beide Gruppen so weit wie möglich angeglichen, was die Führung und die unter den einzelnen Mitgliedern vorhandenen Beziehungen betraf. Es fanden elf Gruppenzusammenkünfte statt, wobei die demokratische Gruppe sich jeweils zwei Tage vor der autokratischen traf. Die demokratische Gruppe wählte ihre Beiträge frei. Die autokratische Gruppe wurde danach angewiesen, das zu tun, was die demokratische jeweils gewählt hatte. Auf diese Weise wurden die Tätigkeiten der Gruppen angeglichen. Im großen ganzen wurde dann mit Ausnahme der Gruppenatmosphäre alles unverändert gelassen. Führer war in beiden Gruppen ein erwachsener Student. Er versuchte, die verschiedenen Atmosphären durch folgende Verfahren herzustellen:
demokratisch
- Alle Maßnahmen Sache einer Gruppenentscheidung, angeregt und herausgeholt durch den Führer.
- Übersicht über die Tätigkeit durch eine im Laufe einer Diskussion bei der ersten Zusammenkunft gegebene Erklärung der allgemeinen Stufen des Vorgangs (Tonerde, Gips, Papiermaschee usw.). Wo es technischen Rates bedurfte, versuchte der Führer, auf zwei oder drei verschiedene Verfahren hinzuweisen, aus denen eines gewählt werden konnte.
- Die Mitglieder durften nach eigenem Befinden mit jedem zusammenarbeiten, mit dem sie es wollten, und die Teilung der Aufgaben wurde der Gruppe überlassen.
- Der Führer versuchte, der geistigen Haltung nach und bei Diskussionen Gruppenmitglied zu sein, aber nicht viel von der tatsächlichen Arbeit auszuführen. Er äußerte objektives Lob und objektive Kritik.
autoritär
- Jede Entscheidung über Maßnahmen durch die stärkste Person (Führer).
- Die Verfahren und die einzelnen Abschnitte bis zum Ziel hin (die vollständige Maske) von der Autorität immer nur für einen Arbeitsgang diktiert, sodaß die künftige Richtung in einem hohen Grade stets ungewiß war.
- Die Autorität bestimmte gewöhnlich autokratisch, was jedes Mitglied tun sollte und mit wem es arbeiten sollte.
- Der Gruppenoberste kritisierte und lobte die Tätigkeit des Einzelnen, ohne objektive Gründe anzugeben, und hielt sich von der aktiven Teilnahme an der Gruppe fern. Er war immer unpersönlich statt erkennbar feindlich oder freundlich (eine notwendige methodische Konzession).
Während der Zusammenkünfte der beiden Gruppen notierten die Beobachter nach Zeiteinheiten die Anzahl der Vorfälle und Handlungen.
- Worin besteht die Wirkung dieser Atmosphäre auf das Gruppenleben
der Kinder? Nach den Messungen der Beobachter war die Beziehung der
Kinder untereinander in den beiden Atmosphären ziemlich verschieden.
In der Autokratie stellte man etwa dreißigmal so viel feindselige
Herrschsucht wie in der Demokratie, häufigere Ermahnungen
zur Aufmerksamkeit und sehr viel mehr feindselige Kritik fest, während
in der demokratischen Atmosphäre Zusammenarbeit und Belobigung
des Kameraden viel häufiger vorkamen. In der Demokratie wurden
mehr konstruktive Anregungen gegeben, und häufiger war auch ein
die Tatsachen berücksichtigendes oder nachgiebiges Verhalten von
Mitglied zu Mitglied.
Interpretiert man diese Daten, so könnten wir sagen, daß der von dem Führer angestrebte „Lebens- und Denkstil“ die Beziehungen zwischen den Kindern beherrschte. In der Autokratie gewann eine feindselige und hochgradig persönliche Haltung gegenüber einer solchen der Zusammenarbeit das Übergewicht. Das trat schlagend durch das Verhältnis zwischen Gruppen- oder „Wir“-Gefühl und „Ich“-Gefühl zu Tage: „wir-bestimmte“ Feststellungen kamen in der Demokratie doppelt so oft vor wie ein der Autokratie, während in der Autokratie weit mehr Feststellungen „ich-bestimmt“ waren als in der Demokratie.
Was das Verhältnis der Kinder zu dem Führer betraf, so ergab die statistische Analyse, daß die Kinder in der autokratischen Gruppe, die gegeneinander weniger nachgiebig waren, ihrem Führer gegenüber etwa doppelt so nachgiebig waren wie die Kinder in der demokratischen Gruppe: Versuche, an den Führer heranzutreten, waren in der demokratischen Gruppe weniger häufig als in der autokratischen Gruppe. In der Autokratie trug das Verhalten des Mitgliedes dem Führer gegenüber mehr den Charakter einer Reaktion auf eine Initiative des Führers.
Das Verhältnis zu dem Führer war in der Autokratie unterwürfiger oder hielt sich mindestens auf rein sachlicher Grundlage. Im ganzen also bestimmte der Lebensstil in beiden Atmosphären ebenso die Beziehung von Kind zu Kind wie die Beziehung von Kind zu Führer. In der autokratischen Gruppe waren die Kinder gegenüber ihresgleichen weniger sachlich, weniger hilfsbereit und nachgiebig, dagegen ihrem Vorgesetzten gegenüber nachgiebiger als in der Demokratie.
Diesem Unterschied des Verhaltens liegen eine Reihe von Faktoren zu Grunde. In der autokratischen Atmosphäre ist die Spannung größer und die dynamische Struktur beider Gruppen ist ziemlich verschieden. In einer autokratischen Gruppe gibt es zwei deutlich geschiedene Ebenen des sozialen Ranges: der Führer ist der einzige, der einen höheren Rang hat, während die anderen auf einer gleich niedrigen Ebene stehen. Eine von dem Führer aufrechterhaltene starke Barriere hindert jeden, durch Übernahme von Führungsaufgaben seinen Rang zu erhöhen. In einer demokratischen Atmosphäre ist der Unterschied des sozialen Ranges unerheblich, und es gibt keine Barriere, die die Übernahme von Führungsaufgaben verhindert.
Das hat eine ziemlich deutliche Wirkung auf die Größe der Individualität. Bei unserem Experiment legte jeder einzelne in der Demokratie eine vergleichsweise größere Individualität an den Tag, da er trotz des unter allen herrschenden „Wir“-Gefühls oder vielleicht gerade deswegen einen gewissen Bereich für sich selber hatte. In der autokratischen Gruppe hatten dagegen die Kinder alle einen niedrigen Rang ohne viel Individualität. Die Art der Untergruppen-Bildung erwies diesen Unterschied noch deutlicher. In der Autokratie gab es wenig „Wir“-Gefühl und vergleichsweise wenig spontane Untergruppenbildung unter den Kindern. Wenn die Arbeit das Zusammenwirken von vier oder fünf Mitgliedern erforderte, dann mußte der Führer die Mitglieder anweisen, sich zusammenzutun. In der Demokratie kamen diese Gruppen spontan zusammen, und sie hielten ungefähr doppelt so lange zusammen wie in der Autokratie. In der Autokratie lösten sich diese größeren Einheiten, wenn sie sich selber überlassen wurden, viel schneller auf.
Diese Gruppenstrukturen führten zusammen mit der in der Autokratie herrschenden hohen Spannung bei Lippitts Experimenten zum Vorhandensein eines Prügelknaben. Die Kinder in der autokratischen Gruppe taten sich nicht gegen ihren Führer zusammen, sondern gegen eins der Kinder und behandelten es so schlecht, daß es nicht mehr in den Klub kam. Das geschah während zwölf Sitzungen mit zwei verschiedenen Kindern. Unter der autokratischen Herrschaft wurde jeder Zuwachs an Rang durch Übernahme von Führungsaufgaben verhindert, und der Versuch, zu herrschen, wurde durch den Lebensstil diktiert. Mit anderen Worten, jedes Kind wurde zum potentiellen Feind eines jeden anderen, und die Kraftfelder der Kinder schwächten sich gegenseitig, statt sich durch Zusammenarbeit gegenseitig zu stärken. Indem sie sich zu einem Angriff auf einen Einzelnen zusammenschlossen, waren die Mitglieder, die auf andere Weise höheren Rang nicht erreichen konnten, durch heftige Unterdrückung eines ihrer Kameraden dazu imstande.
Man mag fragen, ob diese Ergebnisse nicht einfach auf individuelle Unterschiede zurückgehen. Eine Reihe von Tatsachen schießt diese Erklärung aus, obgleich natürlich individuelle Unterschiede stets eine Rolle spielen. Von besonderem Interesse war die Verpflanzung eines der Kinder aus der autokratischen in die demokratische und eines anderen aus der demokratischen in die autokratische Gruppe. Vor der Verpflanzung war der Unterschied zwischen den beiden Kindern der gleiche wie der zwischen den beiden Gruppen, denen sie angehörten, nämlich das autokratische Kind war herrschsüchtiger und weniger freundlich und objektiv als das demokratische. Nach der Verpflanzung jedoch änderte sich das Verhalten so, daß das vorher autokratische Kind jetzt das weniger herrschsüchtige und freundlichere und objektivere Kind wurde. Mit anderen Worten, das Verhalten der Kinder spiegelte sehr schnell die Atmosphäre der Gruppe, in der sie sich bewegten.
Später untersuchten Lippitt und White vier neue Klubs mit anderen Führern. Sie berücksichtigten auch eine dritte Atmosphäre, nämlich die des laissez faire, und setzten die gleichen Kinder nacheinander einer Reihe von Atmosphären aus. Im ganzen bestätigten die Ergebnisse diejenigen Lippitts. Sie zeigen einen schlagenden Unterschied zwischen laissez faire und Demokratie sehr zugunsten der Demokratie. Sie zeigen ferner in den autokratischen Gruppen zwei Arten der Reaktion, eine durch Aggressivität und eine zweite durch Apathie gekennzeichnete.
Im ganzen, glaube ich, erweist sich zur Genüge, daß der Unterschied des Verhaltens in autokratischen, demokratischen und Situationen eines laissez faire nicht das Ergebnis individueller Unterschiede ist. Auf mich haben wenig Erlebnisse einen so starken Eindruck gemacht wie die, den Ausdruck der Kindergesichter im Laufe des ersten Tages der Autokratie sich verändern zu sehen. Die freundliche, aufgeschlossene und zur Zusammenarbeit willige Gruppe, die voller Leben war, wurde innerhalb einer kurzen halben Stunde zu einer ziemlich apathisch aussehenden Versammlung ohne Initiative. Der Übergang von der Autokratie zur Demokratie schien etwas mehr Zeit zu beanspruchen als der von der Demokratie zur Autokratie. Autokratie wird dem Individuum auferlegt. Demokratie hat es zu lernen.
- Diese Experimente als Ganzes bestätigen also die Beobachtungen der Kulturanthropologie und stimmen mit anderen Experimenten über die Wirkung der Situation als einer Ganzheit überein. Das soziale Klima, in dem ein Kind lebt, ist für das Kind ebenso wichtig wie die Luft, die es atmet. Die Gruppe, zu der ein Kind gehört, ist der Boden, auf dem es steht. Sein Verhältnis zu dieser Gruppe und sein Rang in ihr sind die bedeutsamsten Faktoren für sein Sicherheits- oder Unsicherheitsgefühl. Kein Wunder, daß die Gruppe, von der die Person ein Teil ist, und die Kultur, in der sie lebt, zu einem sehr hohen Grade ihr Verhalten und ihren Charakter bestimmen, welchen Raum freier Bewegung sie hat und wie weit sie mit einer gewissen Klarheit in die Zukunft blicken kann. Mit anderen Worten, sie bestimmen in einem wesentlichen Grade ihren persönlichen Lebensstil und die Richtung und Produktivität ihres Planens.
Arbeitsauftrag:
- Fassen Sie die Aussagen Lewins bezüglich der unterschiedlichen Unterrichtsstile zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch.
- Weshalb „verirrt“ sich Ihrer Meinung nach ein Aufsatz über unterschiedliche Unterrichtsstile in einen Kontext, in dem es um die „Lehrerrolle“ geht ?
14. Die Geschichte von Hans Hefeteig
Hans Hefeteig will Bäcker werden. Er hat 12 Semester studiert ‑ die
Fächer Roggenbrötchen, Sesamhörnchen und allgemeines Bäckereiwesen ‑ und
das Erste Backexamen mit "gut" bestanden.
Hans hat viel gelernt im Studium. Zum Beispiel, wie Mehl auf rätoromanisch
heißt und daselbst dekliniert wird, wie die Flugbahn eines vom
Blech fallenden Brötchens mit Hilfe der Sinusfunktion berechnet
wird und wie und weshalb sich die Zielgruppe für Apfeltaschen in
den letzten Jahren verändert hat. Er weiß Bescheid über
die allmähliche Verfertigung der Brötchen beim Backen, er kennt
den schmalen Grat zwischen braun und angebrannt. Nur eines hat er nicht
gelernt: Brötchen zu backen.
Aber
dafür gibt es ja den zweiten Teil derAusbildung; und Hans ist froh, einen
Ausbildungsplatz bekommen zu haben. Anfangs hatte er sich darüber gewundert,
dass er zwei Betrieben gleichzeitig zugewiesen worden war: dein Zentralen Backstudio
(das es in der Stadt nur einmal gab) und einem Bäckereibetrieb (von denen
es viele gab, wie er bald merkte). Nun gut, hatte er sich gesagt, doppelt hält
besser. Und eifrig hatte er in der ersten Woche den Vortragenden im Backstudio
gelauscht, alles mitgeschrieben und vieles für gut befunden:
Die Idee der Binnenblechdifferenzierung hatte ihm gefallen; die Notwendigkeit
eines heißen Impulses zu Beginn einer Backeinheit hatte ihm eingeleuchtet;
die Methode des Offenen Backens hatte ihn begeistert, der Gedanke, die
Brötchen dort herauszunehmen, wo sie drin sind, hatte ihn geradezu
fasziniert. Er hatte ein Referat gehalten über das Thema "Weshalb
Hörnchen mit der Öffnung nach links auf dein Backblech liegen
sollten" und mehrere Aufsätze über die Notwendigkeit der
Beigabe einer Prise Weizenmehl bei Roggenbrötchen gelesen.
Und dann war der erste Tag in der Bäckerei gekommen. Der Bäckereileiter
hatte ihn freundlich begrüßt, ihm alles gezeigt und ihm die
für die Roggenbrötchen oder Sesamhörnchen zuständigen
Bäcker und Bäckerinnen vorgestellt. "Ganz schön mehlig
hier", hatte Hans gedacht. Doch bald war ihm klar geworden, dass
die grauen Haare der Bäcker echt waren.
Alle waren sehr freundlich zu ihm gewesen; jeder Bäcker, jede Bäckerin
hatte sich grundsätzlich bereiterklärt, Hans anzuleiten.
Jedoch ‑ der eine war gerade zwei Wochen krank gewesen und hatte
viel nachzuarbeiten; der zweite hatte ihm den Teig, den er gerade bearbeitete,
nicht zumuten wollen; der dritte war selber neu in dieser Bäckerei;
der vierte hatte zur Zeit nichts mit Roggenbrötchen oder Sesamhörnchen
zu tun.
Bei der fünften Anfrage hatte Hans Glück: Bäckermeisterin
Keks hatte ihn genommen. "Ich kann Sie ohne Schwierigkeiten anleiten",
hatte sie erklärt, "weil ich nur einen halben Backauftrag habe.
Meine Kollegen sind zum Teil überlastet und fühlen sich zum
Anleiten nicht in der Lage. Sie schaffen es wirklich nicht, jeden Backvorgang
vor‑ und nachzubesprechen. Bei einem Blech Entlastung sähe
es sicher anders aus. Außerdem haben wir in dieser Bäckerei
gerade enorme Probleme mit den vielen Backformwechslern‑ und wechslerinnen!
Das schlimmste allerdings" ‑ Bäckerin Keks war richtig
in Fahrt gekommen ‑ "sind für die Anleiter die abschließend
geforderten Gutachten! Wenn wenigstens eines pro Auszubildenden reichte!
Aber nein! Seit neuestem verlangen die von jedem Bäcker ein Gutachten,
dein ein Auszubildender nur einmal auf Blech geschaut hat! Aber nichts
für ungut", hatte Bäckerin Keks ihre Ausführungen
beendet, "dafür können Sie ja nichts. Kommen Sie morgen
rechtzeitig, sehen Sie sich alles an, darin dürfen Sie übermorgen
ans Blech!"
Das war der erste Tag gewesen, ein wenig verwirrend für Hans. Der
zweite Tag wurde nicht weniger verwirrend: Frau Keks hatte die Hörnchen
mit der Öffnung nach rechts auf das Blech gelegt, sich gegen eine Beimischung
von Weizenmehl zum Roggenteig ausgesprochen und sich abfällig über
die Methode des Offenen Backens geäußert.
,Bäckerei und Backstudio scheinen sich ja nicht gerade gut abzustimmen',
hatte Hans gedacht, verwundert und verunsichert.
Inzwischen hat Hans sich arrangiert. Er ist weiterhin angetan von den
Ideen aus dem Backstudio, setzt ab und zu einiges davon in der Bäckerei
in die Tat um ‑ und hält sich im übrigen beim Backen
an die im Betrieb seit Jahren üblichen Backmethoden.
Aufregend wird es jedes Mal, wenn Besuch kommt, Spezialisten aus dein
Backstudio. Letzten Mittwoch war folgendes passiert: "Fetten Sie
das Blech kräftig ein!" hatte Frau Keks vor der Visitation
geraten. Hans hatte den Ratschlag befolgt. Alles war einigermaßen
gut gegangen, wenn auch der Backentwurf nicht ganz eingehalten wurde.
Die Visitatoren waren zufrieden, wie sich bei der Besprechung ‑sie
war endlos wie immer herausstellte. Nur eines hatte ihnen nicht gefallen: "Auf
keinen Fall", hatten sie kritisiert, "dürfen Sie das
Blech so kräftig einfetten!" ‑ Peinliche Stille. Frau
Keks war ein wenig rot geworden, hatte ein wenig gezögert, sich
aber dann zu ihrem Ratschlag bekannt. ‑ Peinliche Stille. Die Visitatoren
waren auch ein wenig rot geworden, hatten verlegen gelächelt und
sich dann überraschend über die zweifellos ebenfalls vorhandenen
Vorteile des kräftigen Einfettens geäußert.
Nun hat Hans ein wenig Angst vorm Zweiten Backexamen, vor allem dem Prüfungsvorbacken
unter Aufsicht des Obermeisters von der Backinnung. Und ob er eine Stelle
bekommt? Die Aussichten sind schlechter geworden, seit der Betriebsrat
den 3/4‑Brötchen nicht mehr zustimmt.
Gestern hat Hans seine alte Freundin Tanja Tafelbild getroffen und ihr
sein Leid geklagt. Sie hat ihm zugehört, ihm Mut gemacht und hinzugefügt: "Hättest
du dich nur für den Lehrerberuf entschieden, so wie ich. Was du
da erzählst, Auseinanderklaffen von Praxis und Theorie, so etwas
gibt es bei uns nicht. Aber kein Wunder: Mit Kindern geht es halt leichter
als mit Brötchen!"
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