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Die Lehrerpersönlichkeit

- Hinweise &. Ergänzungen -

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Inhalt:
  1. Problemaufriss: "Mal sehen, ob der Typ echt ist ...."
  2. Quellen zu: Der Lehrer als Erzieher
  3. Heinrich Geißler: Der Lehrer: Lehrerrolle, Rollenvielfalt, Rollenkonflikt
  4. Christian Caselmann: Wesensformen des Lehrers
  5. Arno Combe: Kritik der Lehrerrolle
  6. Otto Friedrich Bollnow: Über die Tugend des Erziehers
  7. Eduard Spranger: Der geborene Erzieher
  8. Bauer, Kopka &. Brindt: Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit
  9. Hermann Giesecke: Das Ende der Erziehung
  10. Rainer Winkel: Die Persönlichkeit des Lehrers
  11. Hans Christian Thalmann: Den Schulalltag bestehen.
  12. Reinhard Tausch &. Anne-Marie Tausch : Wesentliche Verhaltensdimensionen von Lehrern, Dozenten, Erziehern in Erziehung und Unterricht
  13. Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte
  14. Die Geschichte von Hans Hefeteig

8. Hermann Giesecke: Das Ende der Erziehung

Die entpädagogisierte Schule

Die Schule in ihrer gegenwärtigen Gestalt verdankt ihre Existenz jenen Voraussetzungen der bürgerlichen Erziehung, die nun ihrem historischen Ende entgegengehen. Dies ist vermutlich der wesentliche Grund dafür, dass sie in einer tiefen Krise ihres Selbstverständnisses steckt, die die Reformmaßnahmen der siebziger Jahre eher verstärkt als gemildert haben. Die Klagen über undiszipliniertes, ja kollektiv‑infantiles Verhalten auch älterer Schüler, über fehlende Konzentrationsfähigkeit und motorische Unruhe, über Lärm, Unlust und Langeweile sind zu häufig und auch zu sehr übereinstimmend, als dass sie als Gejammer eines Berufsstandes abgetan werden könnten. Dies schlägt auf die Berufszufriedenheit vieler Lehrer zurück in Gestalt von oft krank machenden Zweifeln an der eigenen Qualifikation wie am Sinn der eigenen Profession.

Je weniger öffentliche Übereinstimmung darüber herrscht, wozu Schule eigentlich da ist und wozu nicht, desto mehr werden ihr Aufgaben aufgebürdet oder von ihr an sich gerissen, die mit ihrem ursprünglichen Zweck nichts mehr zu tun haben, bloß weil sie an der eigentlich zuständigen Stelle, zum Beispiel im Elternhaus, nicht erledigt werden.

Zudem erstickt die Schule in Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden in der Annahme, die staatliche Weisung könne hier irgendwelchen Übeln abhelfen. Wenn die Zahl der Verkehrstoten steigt oder die Wehrgesinnung sinkt oder die Friedensdiskussion in der Öffentlichkeit zu "einseitig" erfolgt, wird nach Erlassen gerufen, die die Schulmeister anhalten sollen, das Nötige unverzüglich beizubringen.

Die ursprüngliche Bildungsfunktion der Schule wird auch durch Verrechtlichung überdeckt. Besonders deutlich wird dies am Notenverrechnungssystem im Zusammenhang mit dem Numerus clausus. Hier wird sozusagen aus Äpfeln, Birnen, Pflaumen usw. ein Obstdurchschnitt errechnet. Wenn aber die einzelnen Schulfächer dazu dienen sollen, die Fähigkeiten wie auch die Leistungsgrenzen der Schüler erfahrbar zu machen, dann verlieren solche Verrechnungen ihren Sinn. Das gilt aber auch dann, wenn die Fächer weitgehend wählbar werden wie in der gymnasialen Oberstufe, weil dann die tatsächlich oder vermeintlich "schwachen" Fächer auch dann abgewählt werden können, wenn eine prüfende Auseinandersetzung mit ihnen gar nicht erst stattgefunden hat.

Die Bildungsfunktion der Schule ist ferner weitgehend überlagert worden durch eine Bewahrungsfunktion (custodiale Funktion): Kinder werden vormittags und teilweise auch nachmittags den Familien und der Öffentlichkeit entzogen, so dass die Erwachsenen ihren beruflichen und sonstigen Pflichten nachkommen können. In dieser Funktion ist die Schule natürlich vorwiegend an der Gegenwart der Kinder interessiert, weniger an deren Zukunft, und so suchen moderne didaktischmethodische Arrangements vergessen zu machen, dass hier "Schule" stattfindet, indem sie den Kindern den Aufenthalt möglichst attraktiv zu machen trachten, unentwegt nach deren "Bedürfnissen" forschen und dabei am liebsten die gängige Fernsehunterhaltung kopieren würden. Nun ist aber gerade die custodiale Funktion eine überflüssige Pädagogisierung, insofern ja "verwahrt" werden muss, wer als unfähig gilt, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Vielleicht liegt es auch daran, dass viele Kinder die Schule als langweilig und lästig erleben und keinen Sinn darin sehen, warum sie sich dort so lange Zeit aufhalten sollen.

Unsere These ist, dass die Kinder nicht sind, als was sie uns heute in den Schulen erscheinen, sondern dass sie durch das pädagogisierte Getue in Familien und Schulen dazu gemacht werden, dass ihnen erwachsenes Verhalten nicht abverlangt, sondern verwehrt wird. Wozu also ist Schule noch da, wenn Gegenwart und nicht Zukunft die dominante Zeitperspektive ist und wenn die Kinder ihre Zukunft verinnerlichen müssen? Dazu abschließend einige Thesen.

Wozu ist Schule nötig?

Zunächst muss die Schule sich wieder besinnen auf ihre eigentümliche Aufgabe im gegenwärtigen Sozialisationsprozess, also auf das, was nur sie dabei leisten kann und was weder die Familie noch die Massenkommunikation noch die Gleichaltrigen anzubieten vermögen. Alle übrigen Erziehungs‑ beziehungsweise Sozialisationsfelder entwickeln wichtige Fähigkeiten des Kindes, aber nur in der Schule können sich systematische, "sinnvolle" Vorstellungen über die wesentlichen Dimensionen der gesellschaftlichen und kulturellen Existenz ‑ über Politik, Wirtschaft, Kultur, Natur ‑ aufbauen. Die Aufgabe der Schule wäre also, durch "wechselseitige Erschließung" (Klafki) Kind und Welt in einen produktiven Austausch zu verwickeln, gerade in der massenmedialen Über‑ und deshalb auch Desinformiertheit kategoriale Schneisen anzubieten, um die herum sich angemessene Weltvorstellungen aufbauen lassen. Das kann nur die Schule leisten, und zwar durch das ihr eigentümliche Verfahren des systematischen, planmäßigen Unterrichts. Nur ein solcher Unterricht legitimiert eine Institution wie die Schule, die Menschen für eine bestimmte Zeit aus ihren sonstigen Lebenszusammenhängen herauszulösen (was für die Universität sinngemäß auch gilt). Insofern ist die immer wieder erhobene Forderung nach einer besseren Verbindung der Schule mit dem Leben problematisch, soweit sie mehr meint als eine didaktische Strategie. Zum Wesen des Unterrichts gehört, dass Menschen sich zu diesem Zweck in eine bestimmte Sozialsituation begeben, die so im sonstigen gesellschaftlichen Leben nicht anzutreffen ist.

Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen ermöglichen heute schon Kindern eine im Vergleich zu früheren Zeiten unvorstellbare Informiertheit. Aber sie liefern die "Fibel" nicht mit, mit deren Hilfe diese Informationen und Bewertungen zu einem kategorial erschlossenen Weltverständnis führen können. Ohne eine solche Ausbildung der Vorstellungskraft sind die Informationen und Deutungsstrukturen der Massenmedien nicht sinnlos, aber sie verbleiben auf der vordergründigen Ebene undurchschauter Sozialisation in Form von Anpassung an wechselnde Moden und herrschende Meinungen. Auch Schule wäre nur Teil eines solchen Sozialisationsprozesses, wenn sie nicht aufklärenden Unterricht zu ihrer eigentümlichen Aufgabe erklärte. Damit ist über das erforderliche didaktisch‑methodische Arrangement noch gar nichts entschieden. Der lehrerzentrierte Unterricht kann dazu ebenso gehören wie eine Theateraufführung oder die Reparatur von Motorrädern.

Bildung statt Erziehung

Ein in diesem Sinne auf die Ausbildung von Fähigkeiten zielender Unterricht muss jeglichen "Erziehungsauftrag" zurückweisen, der nicht aus den Bedingungen des Unterrichts notwendigerweise erwächst. Die Schule ist zum Beispiel nicht der Ort eines allgemeinen "sozialen Lernens" ‑ dafür sind die Familie und die Gleichaltrigen da ‑, sondern der Ort, wo man lernt, gemeinsam mit anderen geistige Arbeit ‑ und nicht irgend etwas ‑ zu betreiben. Die Schule kann nur insofern erziehen, als sie die dafür nötigen Tugenden und Verhaltensweisen abverlangt. Damit Unterricht gelingen kann, ist ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, an Kooperationsfähigkeit, an Aufmerksamkeit und Artikulationsfähigkeit nötig. Diese Fähigkeiten und Verhaltensweisen muss die Schule mit ausbilden, aber darüber hinaus hat sie keine Legitimation mehr, zu irgend etwas zu erziehen; geschieht dies dennoch, so führt das nur zu einer mehr oder weniger willkürlichen, den jeweiligen Machtverhältnissen unterworfenen Politisierung, die den Konsens einer allen weltanschaulichen und demokratisch‑politischen Variationen verpflichteten Institution gefährden müsste. Insofern lernt man in der Schule für die Schule, für das Leben nur insoweit, als das Gelernte dort auch benötigt wird und die erworbenen Vorstellungen auch auf andere Situationen übertragbar bleiben. Unser Plädoyer zielt also auf eine Reduktion und Konzentration des schulischen Anspruchs. Die Schule kann nur noch ein Teil des kindlichen Lebens sein, vielleicht nicht einmal der wichtigste, insofern die Sozialisation außerhalb der Schule nicht hintergangen werden kann.

Entrechtlichung des Unterrichts

Der Bildungsauftrag der Schule kann nur insoweit wieder zur Geltung kommen, als der Unterricht entrechtlicht wird. Da die Verrechtlichung sich insbesondere an den sozialen Folgen von Schulnoten und Zeugnissen festmacht, ist sie nachhaltig wohl nur dadurch zu verringern, dass die Automatik von Schulabschluss und Berechtigung aufgehoben wird. Das gilt vor allem für die Ebene des Abiturs. Das Abitur darf höchstens noch eine Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums sein, keine automatische Berechtigung mehr dafür. In diesem Falle wären die Zensuren ohne unmittelbare soziale Folgen und könnten wieder stärker eine pädagogische Funktion bekommen (zum Beispiel Maßstab für den individuellen Lernfortschritt sein). Kein potentieller Arbeitgeber, der die Sache durchschaut hat, macht heute die Schulnoten zum Hauptkriterium einer Einstellung, das gilt von der Hauptschule bis hin zu akademischen Abschlüssen. Je weniger nämlich Schule und Hochschule mit ihren Zeugnissen die Zukunft ihrer Absolventen im Blick haben können, um so mehr neigen sie dazu, deren Gegenwart etwas Gutes zu tun, zum Beispiel durch relativ "günstige" Beurteilungen. Wie schon gesagt, ist unser Berechtigungswesen eng verbunden mit jener überlieferten Vorstellung des an der Zukunft des Kindes festgemachten sozialen Auf‑ und Abstiegs. Statt eines solchen Systems von "Schullaufbahnen" brauchen wir ein flexibles Bildungsangebot, das nicht weite Zukunftsperspektiven versteinert, sondern kürzere attraktiv macht, die der zunehmenden Gegenwartsorientierung entgegenkommen. Die überlieferten relativ frühen und kaum wieder rückgängig zu machenden Bildungsgangentscheidungen (zum Beispiel nach der Grundschule Übergang aufs Gymnasium) sind historisch überholt.

Ebenso historisch überholt ist die lange Fixierung des Jugendalters auf Schule und Hochschule. Schul‑ und Studienzeiten sollten im allgemeinen verkürzt, dafür spätere "schulische Phasen" während der Arbeitszeit attraktiv gemacht werden. Die langen Schulzeiten tragen nicht unwesentlich zur pädagogischen Infantilisierung des Jugendalters bei, und je länger die Schule dauert, um so weniger attraktiv kann sie sein, sie hat dann einfach immer weniger zu bieten für die Zeit, die sie beansprucht. Vielleicht ließe sich das mildern, wenn die Schule sich stärker gegenüber ihrer Umwelt öffnen würde, wenn sie zum Beispiel Aufgaben der sozialen und kulturellen Mitgestaltung dieses Umfeldes übernähme und vor allem Personen aus diesem Umfeld ‑ Politiker, Vertreter von Organisationen, Handwerker usw. ‑ in den Unterricht hinein holte.

"Pädagogische Verantwortung" des Lehrers

Die tiefe Verunsicherung der Schule hat sich nicht zuletzt niedergeschlagen in einer Verunsicherung des Umgangs zwischen Lehrern und Schülern. Die Skala der Beziehungen reicht von traditionell‑autoritär bis kumpelhaft. Wenn niemand mehr so recht weiß, wozu die Schule da ist, wird auch unklar, wie man warum miteinander in ihr umgehen soll. Gerät jedoch wieder in den Blick, dass es zentrale Aufgabe der Schule ist, durch Unterricht wichtige Fähigkeiten der Schüler zur Entfaltung zu bringen, dann vertritt der Lehrer dem Schüler gegenüber zunächst einmal eine "Sache", die er ihm beibringen will. Das dafür nötige didaktische Handwerk sollte er möglichst gut beherrschen, ohne dabei Fernsehen und BRAVO imitieren zu wollen. Er sollte seinen professionellen Ehrgeiz darin sehen, Ängstliche mutiger zu machen, Schwächere zu ermuntern und zu fördern und vor den Stärkeren zu schützen. Im übrigen sollte er eine Kommunikationsfähigkeit zeigen, in der auch Humor und Nachsicht einen Platz haben. Fachlich‑didaktische Kompetenz plus wenigstens mittlere Kommunikationsfähigkeit ‑das ist zunächst einmal die Grundlage des "pädagogischen Bezugs", die der Lehrer dem Schüler vorzugeben hat, damit er sich daran orientieren kann. Weder die Sache noch die Kompetenz ihrer didaktischen Präsentation können dem Schüler zur Disposition stehen und also auch nicht die für den Umgang mit der Sache nötigen Verhaltensweisen. jeder Erwachsene, der von anderen etwas lernen will, weiß das und akzeptiert die entsprechenden Regeln. Sogenannte "Disziplinschwierigkeiten" zu dulden oder überhaupt diese Regeln den Schülern zur Disposition zu stellen ist also kein Zeichen von Großzügigkeit oder von demokratischer Haltung, sondern von Vorenthaltung des schon möglichen Erwachsenenhabitus, von überflüssiger Pädagogisierung.

Aber wie bei den Eltern, so hat auch die "pädagogische Verantwortung" des Lehrers ihre Grenze. Er kann zum Beispiel die fehlende Bereitschaft des Schülers zur Mitarbeit letzten Endes nicht unterlaufen, obwohl ihm möglicherweise die Mär aufgebunden wurde, man könne jeden Schüler motivieren, wenn man es nur richtig verstehe. Fraglich ist vielmehr schon, ob man überhaupt planmäßig und gezielt einen Menschen motivieren kann, oder ob es nicht vielmehr darauf ankommt, vorhandene Motivationen nicht zu zerstören und im übrigen ein Klima zu schaffen, in dem vielleicht neue Motivierungen entstehen können. Die Welle der Pädagogisierung hat die "Machbarkeit" von Lernen und Bildung in sehr unrealistischer Weise propagiert. Hier müssen die Verantwortlichkeiten wieder klar verteilt werden. Die pädagogische Verantwortung des Lehrers hat den Willen zur Mitarbeit zur Voraussetzung, ganz unabhängig vom Maße der Lernfähigkeit. Jede Lernfähigkeit kann gefördert und weiterentwickelt werden, aber für den Willen dazu ist nicht mehr der Lehrer, sondern der Schüler verantwortlich beziehungsweise ‑je nach Alter ‑ seine Eltern. Dass es immer am Lehrer liegt, wenn die Schüler nicht lernen wollen, ist einerseits Signal für ein Abschieben der Verantwortung, andererseits ein Gebräu, von dem sich die Pädagogisierung nährt.

Eine weitere Grenze der "pädagogischen Verantwortung" liegt darin, dass der Lehrer nicht Mitglied der Familie seiner Schüler ist und infolgedessen weder die Pflicht noch das Recht hat, die ganze Persönlichkeit seiner Schüler "in den Griff zu nehmen". Weder das Seelenleben des Kindes noch überhaupt der Kern seiner Persönlichkeit gehen ihn etwas an. Gestörte Kinder, die vielleicht eine Therapie brauchen, kann er nicht selbst therapieren. Weder die Familie noch die Schule ist eine therapeutische Institution. Zu den Persönlichkeitsrechten der Schüler gehört auch ihre unterhalb der formellen Unterrichtssituation verlaufende "Subkultur" mit ihrem eigenen Jargon und mit eigenen Ritualen; der Lehrer sollte sie weder durch psychologische Tricks in die Hand zu bekommen versuchen noch sich ihr anbiedern. Zum

Anbiedern" gehört auch, diese informelle soziale Dimension zum Gegenstand des Unterrichts zu machen in der Hoffnung, daß dies "motivieren" könne. Solche Hoffnungen trügen fast immer, und zwar vor allem deshalb, weil die Schüler von der Schule etwas anderes, irgendwie "Wichtiges" erwarten, was sie sich gerade nicht selbst beibringen können. Die Schule nimmt die Schüler nicht zuletzt dadurch ernst, dass sie auch die kulturelle Distanz deutlich macht, die zwischen der Subkultur und ihren eigenen Ansprüchen besteht.

"Wahrheit" und "Richtigkeit" als regulative Ideen

Eine sehr problematische Folge des pädagogisierten Denkens ist, wie wir sahen, dass der "Eigenwert" der Sachverhalte aus dem Blick geraten ist zugunsten ihrer Verwertbarkeit beziehungsweise ihrer sozialen Instrumentalisierung. Dies ist ein Problem allen Lehrens und Unterrichtens, weil ja die jeweilige "Sache", um verstanden werden können, für das Bewusstsein der Schüler beziehungsweise Studenten umstrukturiert, didaktisch aufbereitet werden muss. Im Akt der Vermittlung ändert eine Sache ihre Struktur, weil sie mit der Erfahrung des Schülers (zum Beispiel mit seinem bisherigen Wissen) eine Verbindung eingehen muss. Es gibt hier gewissermaßen "Transportverluste". Das Problem gab es auch im Rahmen der alten Bildungstheorie. Aber dort war die Didaktik der Versuch, die Lehr- und Lernbarkeit in der Sache selbst aufzuspüren, in ihrer vereinfachten Grundstruktur oder in ihren exemplarischen Teilen oder in phänomenologischen Reduktionen. Um etwa komplizierte Maschinen begreifbar zu machen, wurde versucht, die notwendigen Elemente von Maschinen überhaupt zu ermitteln, um von daher das Komplexe als Variation des Einfachen erklären zu können.

Die modernen Curriculum‑Konstruktionen und vor allem kommunikativ beziehungsweise interaktionistisch orientierte didaktische Konzepte haben jedoch diese Art der didaktischen Analyse im Prinzip verlassen. Die kommunikativ orientierten Konzepte verweisen etwa nicht zu Unrecht darauf, dass zumindest bei all jenen "Sachen", die einer Bewertung unterliegen, weil sie für das Leben der Menschen von mehr oder weniger großer Bedeutung sind, diese Bewertungen in die Definition der Sache eingehen, über die dann in der Familie oder Schule kommuniziert wird. Diejenigen aber, die über diese Sache so kommunizieren, seien außerstande, jenseits der Kommunikation einen objektiven Maßstab ‑ also die "Wahrheit" ‑zu finden. Da andererseits aber jede Definition der Sache gleichberechtigt sei ‑ es sei denn, jemand wie der Lehrer habe die Macht, seine Definition durchzusetzen (und wer will einen solchen Makel schon auf sich laden) ‑, sei die Sache gleichsam nur noch ein Thema, das den Anlass für eine Kommunikation bildet, in der es nicht mehr um die Suche nach "Wahrheit" oder "Richtigkeit" gehe, sondern um die Beziehungsdimension, wie nämlich sozio ‑emotional mit den Ansichten der anderen umgegangen wird (z. B. autoritär oder tolerant, teilnehmend oder ablehnend usw.).
Nun gibt es sicher soziale Orte, an denen diese Art des miteinander Redens und Denkens ihre Berechtigung hat. Die Familie zum Beispiel ist keine Schulstube, und sich mit der je subjektiven "Wahrheit" der anderen (nicht zuletzt auch der Kinder) auseinander zusetzen, ist zweifellos wichtig. In politischen Versammlungen und bei Gesprächen im Freundeskreis dürfte es ähnlich sein. Aber jeder, der spricht, glaubt an "seine" Wahrheit beziehungsweise Richtigkeit ‑ falls er die anderen nicht täuscht. Offensichtlich kann niemand auf eine solche regulative Idee verzichten, auch wenn er zum Beispiel aus Höflichkeit "seine" Wahrheit nicht durchsetzen will.

Aber Schule und Hochschule bedürfen dieser regulativen Idee zu ihrer institutionellen Legitimation. Wenn zum Beispiel die Schule nicht mehr den Anspruch erhebt, in ihrem Unterricht herauszufinden, "Wie es wirklich ist", dann kann man Schülern nicht mehr weismachen, dass Schule für sie von Bedeutung sei. Sich über etwas angeregt unterhalten kann man auch anderswo. Dass selbst die Wissenschaft Wahrheit und Richtigkeit immer nur annäherungsweise erreichen kann, ist kein Einwand, denn ohne eine solche Idee würde alles Denken in der bornierten Unmittelbarkeit von Kommunikationen stecken bleiben. Schule ist der soziale Ort und Unterricht das dabei nötige Verfahren, diese Borniertheit zu durchbrechen, indem Kommunikationen verpflichtet werden auf eine Idee, die außerhalb ihrer Grenzen liegt. Eine Schule, die dies aus dem Blick verliert und statt dessen die Kinder verwickelt lässt in ihrem gewohnten Denken, Reden und Meinen, pädagogisiert sie nur und enthält ihnen einen Anspruch vor, der sie ein Stück erwachsen machen könnte. Die unterrichtliche Autorität des Lehrers erwächst also nicht nur aus seiner fachlichen Kompetenz, sondern auch daraus, dass er diese regulativen Ideen geltend macht.

Nun hat aber der Unterricht nicht nur eine fachliche Dimension, sondern ‑ wie bereits erwähnt ‑ auch eine normative. In allen Fällen, wo unterschiedliche Bewertungen von Sachverhalten möglich sind, nimmt der Lehrer eine andere Rolle ein. Über Bewertungen gibt es unterschiedliche Meinungen, und diese Meinungen beruhen auf unterschiedlichen Erfahrungen. Die Erfahrungen von Menschen sind aber grundsätzlich gleichberechtigt, die des Schülers sind nicht "wertloser" oder "schlechter" als die des Lehrers, sondern nur anders. Der Respekt vor anderen Meinungen ist also der Respekt vor anderen Erfahrungen und das heißt: vor einem anderen gelebten Leben. Auf dieser Ebene gibt es also von der Sachlage her ‑ und nicht, weil der Lehrer es "aus pädago­gischen Gründen" gewährt ‑ Gleichberechtigung zwischen Schülern und Lehrern. Aber im Unterschied zur Sozialsituation der Familie geht es in der Schule nicht um einen privaten Meinungsaustausch, vielmehr steht hier der gleichberechtigte Austausch von Erfahrungen ebenfalls unter einer die unmittelbare Kommunikation transzendierenden Idee, nämlich der Idee des "richtigen gemeinsamen Lebens". Die individuelle Erfahrung wird eingebracht mit dem Ziel, sie durch den Austausch oder auch die Konfrontation mit anderen Erfahrungen weiterzuentwickeln, sie zu differenzieren und zu präzisieren; insoweit gehört dieser Prozess zum Bildungsauftrag der Schule. Darüber hinaus aber geht es um die Suche nach Lösungen für das Gemeinsame des weiteren Zusammen­lebens.
Diese objektivierende Perspektive muss der Lehrer ein­bringen, um zu verhindern, dass es bei der unverbindlichen Privatheit eines Meinungsaustausches bleibt. Schulischer Unterricht ist also in verschiedener Hinsicht gebunden an "Ansprüche des Objektiven": Sachlich an die regulativen Ideen von "Wahrheit" und "Richtigkeit" und normativ an die regulative Idee des "richtigen gemeinsamen Lebens". Nur insoweit der Unterricht sich diesen Ideen unterwirft, kann die Schule etwas Eigentümliches zur Entfaltung der Fähigkeiten ihrer Schüler beitragen. Alles andere machen die Familien, die Gleichaltrigen und die Massenmedien mindestens genauso gut.

Fazit

Kinder müssen ihre Zukunft schon früh selbst verantworten, sie also verinnerlichen. Diese Tatsache bricht die Macht der Erwachsenen als Erzieher. Daraus muss sich ein neuer Umgang zwischen den Generationen in der Familie ergeben, aber auch eine Neubesinnung über die Aufgaben der Schule. Vor allem muss den Kindern ihre Verantwortung auch tatsächlich entgegen den Tendenzen einer allumfassend Pädagogisierung eingeräumt werden. Das gilt nicht zuletzt auch für die Schulleistungen. Ganz gleich, wie gut oder schlecht die Schule erscheinen mag, aus der Perspektive der Schüler ist sie dazu da, in einem begrenzten, aber wichtigen Bereich ihre Fähigkeiten zu entdecken, damit sich daraus eine Perspektive des künftigen Lebens entwickeln lässt.

Zur Entdeckung der Fähigkeiten gehört aber auch die Entdeckung der Grenzen, und mit beidem muss man leben lernen, beides zusammen erst lässt eine Perspektive für ein selbstverantwortetes Leben entstehen. Kinder haben heute auch außerhalb der Schule eine Fülle von Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Mit dem, was sie daraus machen, müssen sie auch existieren, ohne dass sie dafür andere ‑ zum Beispiel die Eltern ‑ haftbar machen können.

Erziehen heißt immer noch in erster Linie unterstützen und ermutigen, aber immer weniger, auch die Verantwortung für den Erfolg zu übernehmen. Die Kinder wollen nicht nur früh erwachsen sein, sie müssen es auch in einer Zeit, die die Mauern eingerissen hat, die ihre Kindlichkeit früher umgaben und schützten. So zu tun, als sei das anders ‑ das eben ist Pädagogisierung. Wir sollten die Kinder erwachsen sein lassen, ihnen die Verantwortung dafür so früh wie möglich übertragen und ihnen bei den daraus resultierenden Schwierigkeiten unsere Hilfe anbieten.

Giesecke, H. (1996): Das Ende der Erziehung.
Klett – Cotta, Stuttgart, S. 141 ff.

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10. Rainer Winkel: Die Persönlichkeit des Lehrers

 

Der Lehrer im ersten Drittel (und z.T. noch bis in die 60er Jahre) dieses Jahrhunderts hatte das Problem zu lösen: Wie verwirkliche ich mit Hilfe der mir von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten
Autorität die gewünschte Disziplin, Ordnung, Leistung und Gesinnung? Demgegenüber fragt sich der heutige Lehrer: Wie erreiche ich ohne den Rückgriff auf Autorität selbstverantwortliches Handeln, Offenheit, Engagement und kritisches Bewußtsein? Die einen waren also gehaßte „Dompteure“ (im schlechteren) und respektierte „Autoritäten“ (im besseren Fall). Die anderen sind entweder verzweifelte „Beziehungsarbeiter“ (sofern sie noch nicht resigniert haben) oder fluchtbereite „Alternativisten“ (die eher aufs Land  ziehen als gewisse Konsequenzen - z.B. die Konsequenz aus dem Irrtum, der behauptet(e), Freiheit und Regellosigkeit seien identisch und jeder um Ordnung Bemühte ein rechtsradikaler Chauvi, wenn nicht gar ein offenkundiger Faschist).
Es bleibt die Notwendigkeit inmitten vieler Möglichkeiten, die Persönlichkeit des Lehrers zu bilden. Aber wie und - in welchen Ausmaßen?

Eine Abbildung und einige Erläuterungen

AntinomienEiner der wichtigsten Aufsätze inmitten der ansonsten überquellenden Literatur zur Lehrerpersönlichkeit stammt von Herbert Gudjons [1], dem es zum erstenmal gelungen ist, wesentliche Aussagen der psychoanalytischen Theorie auf das Problem der Persönlichkeit des Lehrers so zu beziehen, daß es pädagogisch sichtbar wird. Denn daran krankten bekanntlich die älteren Lehrertypologien; sie klassifizierten und schrieben fest, anstatt zu beschreiben und auf Veränderungen hin zu öffnen:
Wenn Christian Caselmann z.B. dem mehr der Sache zugewandten Lehrer das Attribut logotrop zuordnete und den eher das Kind und seine Bedürfnisse im Auge habenden einen paidotropen Lehrer nannte, wenn die Waldorfpädagogik im Rückgriff auf Hippokrates von sanguinischen, cholerischen, phlegmatischen und melancholischen Lehrern spricht; die einen von intro- und extravertierten, die anderen von autoritären oder laissez-faire-haften Erziehern reden ..., dann schweben all diese Typisierungen in der Gefahr, daß in  sie nicht(s)  hineingelernt werden kann - vor allem nicht durch die Betroffenen selbst. Genau da setzt die Gudjons`sche Bemühung an. Denn selbstverständlich gibt es „typische Züge“, „hervorstehende“ Merkmale und „bleibende Eigenschaften“ des Lehrers. Und doch: Die folgenden Erläuterungen wollen den von Gudjons aufgezeigen Neuansatz aufnehmen und an einer entscheidenden Stelle fortführen.
Wer sich, bevor er hier weiterliest, einige Zeit in die obige Abbildung vertieft, erkennt unschwer dies: Jeder Mensch spürt bestimmte Kräfte, Bedürfnisse, Ängste, Grundhaltungen und  Krankheitsgefahren in sich und von seinen Mitmenschen her. Diese jeweilige Kraft zur, dieses bestimmte Bedürfnis nach, manche Angst vor, eine bestimmte Grundhaltung gegenüber sowie die eine oder andere Erkrankung an ... bilden ein untrennbares und wechselseitig aufeinander wirkendes Ganzes, das lediglich zum Zweck der Verständlichkeit im folgenden wie ein zu zergliederndes Cluster von Merkmalen erläutert werden soll. Daß dabei die Erkenntnisse von Fritz Riemann die theoretische Grundlage bilden, sei ausdrücklich betont.[3]
Die Kraft zur Individuation, die Tendenz zur Selbstwerdung ist in jedem Menschen vorhanden:Schon der Säugling lebt nicht nur mit der Realität einer Mutter-Kind-Symbiose, sondern auch mit der Potentialität, ein unverwechselbares eigenes Ich zu werden. Dazu freilich ist ein gewisses Maß an Distanz zum Du nötig: Ich und Du sind nicht identisch und deckungsgleich, sondern zwei Pole einer elliptischen Beziehung. Wird nun dieses Bedürfnis nach Distanz gar nicht oder zu abrupt und überwältigend befriedigt, entsteht Angst, genauer: „Die Angst vor Nähe“ (Schmidbauer), davor: überhaupt Bindungen vertrauensvoll einzugehen, da sie entweder die eigene Selbstwerdung bedrohen oder aber für den Aufbau des eigenen Ich überflüssig sind. Besonders anfällig für solche intentionalen Gehemmtheiten ist der werdende Mensch in der ersten, derjenigen Phase also, in der Urvertrauen und basale Bindungen angestrebt, aber auch erschwert und verhindert werden können. Schizothyme - also markant (sich) abgrenzende - Verhaltensweisen können sich in einer solchen Biographie zum Schutze der bedrohten Persönlichkeit ausbilden. Wird nun diese Tendenz nicht aufgehalten, ein solches - zunächst einmal völlig gesundes - Verhalten progredieren, extreme Ausmaße annehmen, überwertig werden, dann schwebt ein solcher Mensch zumindest in der Gefahr, in eine derjenigen Krankheiten zu taumeln, die wir dem schizophrenen Formenkreis zuordnen.
Für alle anderen jedoch gilt: Menschen mit zur Individuation drängenden Kräften, auf Distanz wertlegenden Bedürfnissen, vor allzu engen Bindungen sie warnenden Ängsten sowie Menschen mit zur Abspaltung unliebsamer Triebe, Gefühle und Gedanken tendierenden  psychisch-sozialen Gefährdungen entwickeln im Laufe ihres Lebens gewisse Grundhaltungen und bringen diese ihre Persönlichkeit auch in ihren Beruf ein.
Soweit es sich um den pädagogischen handelt, könnten wir von einem sachlich orientierten, eher kühlen und bedächtigen, um Gerechtigkeit und Leistung bemühten Anspruchslehrer sprechen, der nicht besser oder schlechter als seine Kollegen ist, sondern lediglich anders. Problematisch wird diese Leherpersönlichkeit nur und erst dann, wenn sie extreme Formen annimmt.

Um eben jene Übertreibung zu verhindern, kennen wir alle eine entsprechende Gegenkraft in uns: die Kraft zur Hingabe an ein Du, aus der ein Bedürfnis nach Nähe resultiert. Auch dieses aber muß entwickelt, erzogen, gebildet werden, wenn die Angst vor der Ferne nicht überhand nehmen soll. Wenn hier - vor allem in der oralen Phase - unnötige Versagungen zugemutet werden, wer weder über den Mund (lat. Os,oris) noch seine Hände genügend haben bzw. greifen (lat.captare)durfte, wessen Besitzansprüche umgekehrt grenzenlos befriedigt wurden, wer gar keine Frustrationen zu verarbeiten gelernt hat, wird auf Trennungen und Versagungen weinerlich oder aggressiv reagieren.
Dieser Teil unserer Persönlichkeit sucht also Nähe, Wärme, Verständnis und Liebe. Menschen, deren Kräfte, Bedürfnisse, Ängste und Gefährdungen aus diesem Bereich heraus dominieren, konstituieren eine Grundhaltung, die von einem Hang zum Emotionalen gekennzeichnet ist. In der Schule werden sie gern als Kumpellehrer wahrgenommen, die - in positiven Fällen - engagiert die Interessen von Schülern vertreten, jedoch - in negativen Zusammenhängen - um die Gunst ihrer Schüler buhlen.

Eine dritte Kraft in uns strebt nach Dauer und Kontinuität, will Tradition und Konservation. Ein Bedürfnis nach Überschaubarkeit, Regelhaftigkeit und Ordnung wird (vornehmlich in einer dritten Lebensphase) grundglegt und kommt der Sehnsucht nach Erwartbarkeit und Übersichtlichkeit entgegen. Wird es nicht oder nur unzureichend akzeptiert, mobilisiert dies eine Angst vor der allzu raschen Vergänglichkeit, auf die oft genug hektisch-panisch reagiert wird. Umgekehrt: Wo ein Kind (z.B. in der Phase der Überwindung des unwillkürlichen Einnässens und Einkotens) auf Ordnung, Regeln und Gehorsam gleichsam getrimmt wird, ist die Gefahr groß, daß daraus krampfhafte Verhaltensweisen und Einstellungen erwachsen, ja im Extremfall Zwangsneurosen entstehen.
Bleiben solche Übertreibungen hingegen aus, dann sorgt dieser Teil unserer Persönlichkeit dafür, daß wir nicht chaotisieren und sprunghaft-hektisch werden, sondern eine Haltung ausbilden, die gelassen und konsequent inmitten von gelegentlich allzu großer Offenheit auf Regelungen, Eindeutigkeiten und Überschaubarkeiten besteht. Dominiert eine solche Einstellung bei einem Pädagogen, könnten wir von einem Ordnungslehrer sprechen, der seine positiven Seiten im Herstellen von strukturierter Gestaltung besitzt, in den negativen Zügen jedoch den Pedanten und Ordnungsfanatiker ablegt.
Um eben jene Perversion zu verhindern, ist die Kultivierung einer vierten Kraft (als Gegengewicht) nötig: die Kraft zur Veränderung, zur Reform, zur Verbesserung. Nur Dauer hieße Erstarrung, nur Ordnung bedeutet Leblosigkeit. Dieses Bedürfnis nach Neuheit, Freiheit und Offenheit wird in derjenigen Phase besonders gelernt, in der die Beziehungen des Kindes zu den Eltern und Geschwistern zum erstenmal problematisch werden. Je nachdem, ob es den Vater und die Mutter als Konkurrenten oder faire Partner, als Objekte von Libido und Destruktion oder als Subjekte von Liebe und Aggression erfahren konnte, wird es entweder ödipal fixiert bleiben oder ein auf Selbstbestimmung hin freigegebenes Wesen werden können, wird es zu hysterischen (zur Schau stellenden) Reaktionen neigen und in Konfliktfällen entsprechende Neurosen aktivieren oder einen Gestaltungswillen dokumentieren, der die eigenen Rechte mit denen anderer solidarisch auszutarieren versteht. Diese Grundhaltung in Richtung Offenheit und Veränderung wird sich in allen Berufsgruppen finden. Und auch in der Schule sind solche Freiheitslehrer nötig. Denn sie verhindern Erstarrung und Friedhofsruhe, Abhängigkeit und Duckmäusertum, Verabsolutieren sie ihre Einstellung jedoch, dann drohen Chaos und Rebellion, Unverbindlichkeit und Gaukelei - von der Erziehung bis zur Unterrichtsvorbereitung.

Dies nun ist die entscheidende Stelle: Dem Lehrertyp entgeht man nicht dadurch, daß man jedwede Akzentuierung und Profilierung vermeidet, mit anderen Worten: alles sucht und nichts findet, harmoniesüchtig jede Dissonanz scheut und alle Konflikte ausklammert. Nein, jeder Lehrer soll und muß seinen „Charakter“, sein „Profil“, seine individuelle „Persönlichkeit“ haben. Aber er wird sie nur dann ausbilden können, wenn er das Extreme in sich ebenso vermeidet wie das Nebulöse, dem Ichkult sich genauso wenig hingibt wie der Diktatur des Man oder des Wir. Zu einer Persönlichkeit wird nur derjenige Lehrer, dem alle vier Kräfte aufeinander angewiesene Teile ein und derselben Biographie, Existens und Person sind; der keines der divergierenden Bedürfnisse vernachlässigt oder verabsolutiert; der jede Angst erst einmal zuläßt; und doch keine so weit entfacht, daß sie in eine Krankheit umzuschlagen vermag. Kurz: Vom Lehrertyp zur Lehrerpersönlichkeit kommen wir nur dann, wenn jeder seine Eigenart bejaht und doch zum Zentrum hin sich orientiert, d.h. nicht in Richtung der Pfeile schaut und quasi zentrifugale Aktivitäten entfaltet, sondern der versucht, seine eigene Dominanz als Ausgleich für andere Dominanzen in den Kreis eines spannungsgeladenen und doch um den common sense bemühten Kollegiums einzubringen. Da mag sich der eine eher „rechts oben“ oder „links unten“ verorten, entscheidend ist seine Bereitschaft, den bzw. die jeweils anderen Kollegen zuzulassen.
Eine solche Persönlichkeit könnte und würde ich einen Antinomielehrer nennen, eben weil er kein Typ (mehr) ist, sondern weil er einerseits die unverwechselbare Eigenart seiner Person sucht und ausbildet, weil er andererseits aber auch die aus der Notwendigkeit anderer Persönlichkeiten resultierenden Spannungen aus- und durchhält... .
Ein solcher Lehrer lebt nicht aus der permanenten „Kritik der  Lehrerrolle“[4] und doch wird er keine der ihm angetragenen und abverlangten Rollenerwartungen kritiklos übernehmen. Er ist auch nicht jener „gebrochene Lehrer“, der „gebrochenen Schülern auf die Beine zu helfen"[5]  versucht (weil dies aber nicht gelingt, von einer Therapie in die andere flüchtet), und doch wird er sensibel sein für Verletzungen, Ungerechtigkeiten und persönliches Leid. Und schließlich ist er kein „Anti-Lehrer“ [6] , dem Pädagogik allenfalls subversiv möglich erscheint, und dennoch ist er kein bloßer Erfüllungsgehilfe von Staat und Gesellschaft.

 

Rainer Winkel: Die Persönlichkeit des Lehrers.
In: betrifft: erziehung, Heft 1/86

Ausführliche Studien zu den Widersprüchen und Spannungen in Erziehung und Schule finden
sich in dem demnächst erscheinenden Buch:
Rainer Winkel: Antinomische Pädagogik und Kommunikative Didaktik. Düsseldorf Schwann 1986

Arbeitsauftrag:

Literaturverweise

[1] Herbert Gudjons:Lehrerpersönlichkeit im Aufwind. In:Westermanns Pädagogische Beiträge,34(6/1982),S.249-252.

[2] Christian Caselmann:Wesensformen des Lehrers (Original 1949) Stuttgart:Klett 4.1970

[3] Fritz Riemann:Grundformen der Angst, München-Basel:Reinhardt 1. Auflage 1975,13. Auflage 1981.

[4] Arno Combe:Kritik der Lehrerrolle.München:List 1971.(Combe ist - im Gegensatz zu den beiden weiter oben zitierten Autoren Ziehe und Bastian - Jg.1940 und einer der prominentesten Vertreter der 68er-Generation.Vgl. auch seine beiden folgenden Bücher:Krisen im Lehrerberuf. Bensheim: pädex Verlag 1979. Alles Schöne kommt danach. Die jungen Pädagogen. Reinbek:Rowohlt 1983.

[5] ders. In: H.Stubenrauch: a.a.O., S. 196f.

[6] ders.: a.o.O. S.193

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11. Hans Christian Thalmann: Den Schulalltag bestehen.
Psychohygiene des Lehrerberufes.

Ein Fall

Es handelt sich dabei um die Unterrichtsbeobachtungen zweier Studentinnen bei einer Junglehrerin. Elke B., die, da sie mit den Studentinnen befreundet ist, in dem Bericht mit ihrem Vornamen Elke erscheint. Berichtet wird über eine Geschichtsstunde in einer Hauptschulklasse.

„Zu Beginn der Stunde teilt Elke einen Arbeitsbogen aus, den die Schüler in Partnerarbeit ausfüllen sollen. Der Inhalt scheint diese nicht zu interessieren, sie bestürmen Elke nur mit formalen Fragen: ’Welche Farbe sollen wir nehmen? Sollen wir Linien ziehen? Wie lange haben wir Zeit?’ Sie sind es offensichtlich gewohnt, nach den Befehlen des Lehrers Arbeitsaufträge auszuführen, und verlangen entsprechend, daß der Lehrer genau vorausbestimmt, was sie tun sollen.
Elke erfüllt diese Erwartungen jedoch nur teilweise. Schon am Anfang verteilt sie zunächst das falsche Arbeitsblatt. Sie ist unsicher, kann aus Nervosität  die Stelle im Geschichtsbuch, die die Schüler als Hilfe verwenden sollen, nicht finden und gibt unangemessene Arbeitsaufträge. Daraufhin entsteht mehr und mehr Unruhe in der Klasse. Auf die aggressiven Fragen der Schüler ‘Was sollen wir den machen?’ reagiert Elke mit der Antwort:’ Überlegt doch selbst’... .
Nach und nach nützen immer mehr Schüler den von Elke gewählten Freiraum und ihre Unsicherheit aus und entwickeln Taktiken, um den Unterricht gezielt zu boykottieren. So behaupten sie plötzlich, ihre Geschichtsbücher nicht mitgebracht zu haben, weil Elke dies am Tag zuvor nicht angekündigt habe. Gleichzeitig lassen einige ihre Bücher unter der Bank verschwinden. Elke durchschaut das Spiel nicht, glaubt, sie hat es tatsächlich vergessen und geht daran, die vorhandenen Bücher zu verteilen, die jedoch dauernd wandern und zwischendurch verschwinden.
Elke wird zunehmend nervöser, scheint keinen Überblick mehr zu haben und reagiert auf den immer stärker werdenden Krach persönlich betroffen. Sie versucht, die Disziplin durch sehr laute Befehle, Ermahnungen und Drohungen wiederherzustellen. Sie duldet jetzt nicht mehr den geringsten Regelverstoß, ohne darauf einzugehen, wodurch sie immer beschäftigter und aggressiver wird und sich in weitere Widersprüche verwickelt. So verbietet sie z.B. einem Schüler das Kaugummikauen zuerst mit der Begründung, daß es der Direktor verboten habe .’Deshalb darf ich dir das nicht durchgehen lassen.’ Als der Schüler jedoch jetzt offen provozierend weiterkaut, schreit sie ihn an: „Diese ekelhafte Kaugummikauerei kann ich nicht mehr ertragen“ - und wirft ihn aus der Klasse. Während sie vorher das Verbot mit ihrer Abhängigkeit vom Schulleiter begründet hat, wird jetzt deutlich, daß sie es selbst emotional vertritt.
Als sie sich wieder beruhigt hat, appelliert sie an die Einsicht der Schüler in die Notwendigkeit einer funktionaler Disziplin . sie läßt dabei offen, daß sie selbst unter Druck steht. Ich muß doch für einen geregelten Unterricht sorgen,sonst kreige ich Ärger. Da die Schüler diese Erklärung oder Entschuldigung offensichtlich nicht verstehen und weiter laut sind, fällt Elke wieder in den autoritären Stil zurück und reagiert derart rigide und willkürlich, daß die Funktionalität der geforderten Ordnung nicht ersichtlich ist. Die Schüler scheinen sie jedoch nicht ernst zu nehmen und äffen ihr autoritäres Verhalten nach, so daß sich gegen Ende der Stunde die Situation derart eskaliert hat, daß der Unterrichtsstoff vollkommen verlorengeht. Ein Lernprozeß bei den Schülern ist sehr unwahrscheinlich. Elke verläßt die Klasse völlig erschöpft.“

Rollenanalyse

Dieser Bericht macht zweierlei deutlich: einmal, wie sich im Verlauf einer Unterrichtsstunde durch Unsicherheit und Verärgerung des Lehrers und durch die Disziplinlosigkeit der Schüler das Klima derartig verschlechtern kann, daß ein effektives Lernen unmöglich wird; zum anderen, daß ein Lehrer auf Dauer eine derartige Belastung psychisch nicht durchhalten kann. Es läßt sich auf Grund des Berichtes leicht vorstellen, daß die Lehrerin die nächste Unterrichtsstunde in dieser Klasse mit noch größerer Unsicherheit beginnen wird und daß die Schüler darauf mit noch größerer Feindseligkeit und Apathie reagieren werden. Ein Teufelskreis schließt sich, der Lehrern und Schülern den Unterricht zur Qual machen kann.

Aus Befragungen von Schülern wird deutlich, daß diese sich beim Lehrer folgende Verhaltensweisen wünschen: Kooperation mit den Schülern, demokratische Haltung, Freundlichkeit, Rücksichtnahme.

Eine Untersuchung von Ruppert erbrachte als Rangfolge von Lehrereigenschaften, die ihn im Schülerurteil sympathisch machen: Liebe - Güte - Wohlwollen - Frohsinn - Gerechtigkeit - Verständnis - Ordnung. Schüler erhoffen sich also einen liebevollen, hilfsbereiten, partnerschaftlichen Lehrer. Genau diese Einstellungen den Schülern gegenüber haben sehr viele Junglehrer; sie haben ihren Dienst mit der festen Absicht angetreten, sich Schülern gegenüber freundlich, partnerschaftlich, „menschlich“ zu verhalten. Gerade mit diesen Einstellungen aber erleidet der Lehrer häufig Schiffbruch. Die Schüler scheinen ein großzügigeres, weniger strafendes, schülerorientiertes  Veralten des Lehrers als Schwäche auszulegen, und sie bestrafen seine guten Absichten mit Disziplinlosigkeit. Der Lehrer reagiert darauf enttäuscht und neigt rasch dazu, mit „bewährten“ Zwangsmitteln die Disziplin wiederherzustellen. Die Aufforderung einzelner Schüler an den Lehrer „endlich einmal durchzugreifen, sich nicht alles gefallen zu lassen“, bestärkt den Lehrer dann in seiner Auffassung, daß die Schüler von ihm eher autoritäres als partnerschaftliches Verhalten erwarten, daß schulisches Lernen eher ermöglicht wird, wenn man den Schülern weniger Freiräume läßt. Der Widerspruch zwischen den Erwartungen und dem Verhalten der Schüler ist zu erklären durch deren Verunsicherung, die ein Lehrer bewirkt, wenn er kein typisches Rollenverhalten zeigt. Durch Provokationen und Disziplinlosigkeiten wollen die Schüler den Lehrer zwingen, doch die Rolle des „typischen Lehrers“ zu spielen, daß heißt, sich autoritär zu verhalten, Zwangsmittel anzuwenden.
Die Schüler haben die Schule nun einmal als Zwangssituation kennengelernt: Klassenarbeiten, Zeugnisnoten, die Frage der Versetzung und Nichtversetzung, der Numerus clausus u.a. werden vom Schüler als permanente Bedrohung empfunden, die Angst auslöst. Für diese Angst wird der Lehrer verantwortlich gemacht, in dem sich die Zwänge des Schulsystems personalisieren. Ein Lehrer, der versucht, im täglichen Umgang mit den Schülern weniger Druck auszuüben und die Selbständigkeit der Schüler anzuregen, muß diesen einerseits unglaubwürdig erscheinen, da er ja doch nur partiell die Schülerängste vermindern kann - er  ist selbst gezwungen, zu beurteilen, Klassenarbeiten zu schreiben, Noten zu geben - andererseits stellt er für die Schüler ein geeignetes Ventil dar, dem sonst vorherrschenden schulischen Druck auszuweichen, ja sich an ihm als Stellvertreter für das Schulsystem zu rächen. Durch Disziplinlosigkeit im Unterricht aber wird ein effektives  Lernen verhindert, und die Schülerleistungen sinken. Damit aber werden die schulischen und beruflichen Chancen der Schüler verringert, wofür von Eltern und Schülern wieder der Lehrer verantwortlich gemacht wird, der es nicht versteht, einen guten Unterricht zu halten. Trotz bester Absichten erlebt der Lehrer eine Kette von Mißerfolgen, die seine ursprünglichen Einstellungen und Überzeugungen in Frage stellen und ihn sehr rasch zu Verhaltensänderungen veranlassen können

Das oben dargestellte Beispiel macht deutlich, wie selbst innerhalb einer Unterrichtsstunde das ursprünglich eher partnerschaftliche Verhalten einer Lehrerin in stark autoritäres umschlägt. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis zeigt sich hier ganz konkret. Die Folge ist eine starke Verunsicherung des Lehrers, der sich aufgrund seiner ursprünglichen Einstellungen nicht mehr mit seinem eigenen - autoritären - Verhalten identifizieren kann. Damit empfindet der Lehrer seine Tätigkeit als entfremdete Arbeit. „Lehrerarbeit ist faktisch entfremdete Arbeit; den an ihn gestellten bzw. den selbst gestellten Ansprüchen kann der Lehrer gar nicht gerecht werden. Die Gründe für sein Scheitern wird er zunächst bei sich selbst suchen. Das ist aber auf lange Sicht nicht zu ertragen, so daß er sie schließlich seinen Schülern, von denen er sich enttäuscht sieht und die ‘es ja gar nicht anders haben wollen’ zuschreibt...“. Ein gegenseitiges Mißverständnis ist die Ursache für Konflikte zwischen dem Lehrer und seinen Schülern. „Die Schüler haben die guten Absichten des Lehrers nicht erkannt, der Lehrer hat die schlechten Erfahrungen der Schüler mit der Schule nicht richtig eingeschätzt... . Das Ergebnis ist gegenseitige Enttäuschung.“
Wichtige Vorbedingung dafür, daß der Lehrer an der Schule nicht verzweifelt, daß er nicht seine berechtigten Überzeugungen aufgibt, ist daher eine genaue Kenntnis der Ursachen des Verhaltens seiner Schüler; auf dieser Grundlage wird es ihm möglich sein, zwischen persönlichen und systembedingten Ursachen von Konflikten zu differenzieren und eigene Verhaltensunsicherheiten abzubauen. Hier haben - nachdem bisher überwiegend die Notwendigkeit einer Praxisorientierung betont wurde - theoretische Veranstaltungen in der Lehreraus- und -weiterbildung einen wichtigen Platz.

Thalmann, H. C. (1978): Den Schulalltag bestehen.
Psychohygiene des Lehrerberufes.
 Freiburg: Herder

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12. Reinhard Tausch &. Anne-Marie Tausch :
Wesentliche Verhaltensdimensionen von Lehrern, Dozenten, Erziehern in Erziehung und Unterricht

Eine wesentliche Frage vieler Lehrer und Erzieher ist : Wie sollen wir uns in der alltäglichen Unterrichts- und Erziehungspraxis verhalten, damit bei Kindern und Jugendlichen diejenigen Erfahrungen und Vorgänge stattfinden, die wir und z.T. sie selbst anstreben ? Durch welches alltägliche Verhalten von uns Lehrern – Erziehern wird das prosoziale Verhalten der Schüler, ihre gefühlsmäßige Reife und ihr intellektuelles - schöpferisches Verhalten gefördert ? Durch welches Verhalten von uns befähigen wir sie, später als Erwachsene einen sinnvollen Gebrauch der gewährten Freiheiten zu machen und das Ausmaß an sozialem Verhalten, Engagement und Selbstdisziplin zu verwirklichen, das bei vielen Bürgern vorhanden sein muß, wenn demokratische Gesellschaftsordnung nicht in Chaos oder Diktatur enden sollen ?

Die Hauptergebnisse empirischer Forschungen in den letzten 15 Jahren ermöglichen wissenschaftliche Antworten auf diese Kardinalfrage :

 

Die Dimension des zwischenmenschlichen Verhaltens

Im Folgenden sind die Hauptdimensionen (Merkmalsbündel) emotionalen und sozialen Verhaltens von Lehrern – Erziehern kurz dargestellt. Mit Hilfe 5stufiger Einschätzungsskalen können Kollegen, Beobachter und Schüler feststellen, welches Verhalten wir Lehrer – Erzieher verwirklichen und ob es dem angestrebten Verhalten entspricht.
Das wünschenswerte Ausmaß des Lehrerverhaltens ist ferner bei jeder Dimension mit angegeben. Es hängt von den Erziehungszielen, von den Vorgängen, die wir durch unser Verhalten bei Jugendlichen anstreben und wünschen. Diese Erziehungsziele sind hier aus Platzgründen nicht aufgeführt.[1] – Konkreter und unverfälschbarer als Erziehungsziele scheinen uns heute Grundqualitäten menschlichen Zusammenlebens. Durch sie kann in jedem Moment des Unterrichts, der Familien- oder Heimerziehung festgestellt werden, welches zwischenmenschliche Geschehen in welchem Ausmaß verwirklicht wird. Hier ist keine Ausrede mehr möglich, daß ein inhumanes Erziehungsverhalten, z.B. die Demütigung von Kindern, notwendig sei und nur dazu diene, hohe erzieherische Ideale zu erreichen. Diese Grundqualitäten zwischenmenschlichen Zusammenlebens haben wir ebenfalls eingehend dargestellt [2]. Es sind folgende 5 Grundqualitäten : Selbstbestimmung und individuelle Freiheit – Unantastbarkeit der Würde der Person – soziale Ordnung – Förderung der Leistungsfähigkeit – Transparenz wesentlicher Entscheidungen.

Emotionale Dimension[3]

Mißachtung, Kälte, Abweisung

-2

-1

0

1

2

Achtung, Wärme, Zuneigung

geringschätzig, mißachtend, teilnahmslos, abwertend, kalt, verständnislos, abweisend, entmutigend, sozial – irreversibel, unfreundlich, verschlossen, mißtrauisch

 

 

 

 

 

wertschätzend, achtend, anteilnehmend, anerkennend, warm, ermutigend, sozial – reversibel, freundlich, offen, vertrauend

Die Auswirkung von Achtung – Wärme – Zuneigung auf Jugendliche : Größeres Ausmaß an Selbstachtung (ein sehr bedeutender zentraler psychischer Vorgang), positive emotionale Grundstimmung, günstigeres Selbstkonzept, günstigere Grundbedingungen für allgemeines psychischer Funktionieren und seelische Gesundheit, Lernen von warmem – zugewandtem emotionalem Verhalten und der Verwirklichung gegenüber anderen durch Wahrnehmung dieses Lehrer – Erzieher – Verhaltens.

Auswirkung von Mißachtung – Kälte – Abweisung : Verminderung der Selbstachtung, Gefühle der Minderwertigkeit, Anstieg von Psychoneurotizismus, Verminderung der allgemeinen psychischen Funktionsfähigkeit und Beeinträchtigung seelischer Gesundheit, Lernen von geringschätzigem Verhalten und Verwirklichung gegenüber anderen durch Wahrnehmung eines derartigen Lehrerverhaltens.

Notwendig zur Erreichung der Erziehungsziele und der Grundqualitäten menschlichen Zusammenlebens ist ein hohes Ausmaß von Achtung – Wärme – Zuneigung.

 

Lenkungs - Dimension [4]

Keine Lenkung – Dirigierung - Kontrolle

1

2

3

4

5

Hohes Ausmaß Lenkung – Dirigierung - Kontrolle

Keine Befehle, keine Anordnungen, keine Vorschriften u.ä.;
Gewähren von Selbstbestimmung und individueller Freiheit

 

 

 

 

 

Hohes Ausmaß von Befehlen, Anordnungen Aufforderungen, Vorschriften, Verboten, Kontrollen, Fragen, Zwang, häufiges längeres Reden

Auswirkung eines großen Ausmaßes der Dimension lenkende – dirigierende Aktivität : Überwiegend reaktives Verhalten der Kinder – Jugendlichen bzw. Studierenden, geringes Ausmaß an Selbstbestimmung, kein Erlernen von sinnvollem Gebrauch der Freiheit durch selbstbestimmtes selbstgesteuertes Verhalten. Ferner Wahrnehmungslernen der Jugendlichen, andere Menschen in hohem Ausmaß zu dirigieren – lenken.

Auswirkung eines fehlenden Ausmaßes der Dimension lenkende  - dirigierende Aktivität : Fast völlige Selbstbestimmung und individuelle Freiheit des Kindes – Jugendlichen. Jedoch öfters nur zeitweise und in bestimmten Situationen möglich. Bei gleichzeitiger emotionaler Mißachtung – Kälte – Abweisung sowie fehlender oder geringer nicht – dirigierender Aktivität des Erziehers – Lehrers sind destruktive Effekte bei Kindern und Jugendlichen wahrscheinlich.

Zur Erreichung der Erziehungsziele und der Grundqualitäten menschlichen Zusammenlebens ist ein geringes, mäßiges Ausmaß von Leitung und Dirigierung angemessen.

Ein hohes Ausmaß der emotionalen Dimension sowie ein geringes Ausmaß der Lenkungsdimension sind notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingungen für eine angemessene Erziehung und Unterrichtung. Zusätzlich erforderlich ist ein hohes Ausmaß der Aktivität und des Einsatzes von Lehrern – Dozenten – Eltern, jedoch nicht in Form von Dirigierung – Führung – Kontrolle.

Nicht – dirigierende fördernde Aktivität [5]

 

1

2

3

4

5

 

  • keine Angebote, Anregungen, Vorschläge, Alternativen, Schaffung förderlicher Bedingungen,
  • Passivität
  • kein Einsatz u. keine Hilfe für andere

 

 

 

 

 

  • Hohes Ausmaß von Angeboten, Anregungen, Alternativvorschlägen;
  • Großes eigenes Engagement und Bemühen, Einsatz und Hilfe für andere;
  • Schaffung hilfreicher günstiger Bedingungen, z.B. durch Bereitstellung von Materialien
  • Förderung der Übernahme der Verantwortung des Kindes – Jugendlichen für sich selbst, Förderung von Selbstexploration und Selbstöffnung

 

Nicht dirigierende fördernde Aktivität bei Lehrern – Erziehern ist meist erst in geringem Ausmaß gegeben. Deshalb einige konkrete Beispiele. Folgende nicht – dirigierende Tätigkeiten von Lehrern sind u.a. in hohem Maße notwendig :

 

Zur Erreichung der Erziehungsziele und der Grundqualitäten menschlichen Zusammenlebens ist ein mittleres bis hohes Ausmaß nicht – dirigierender fördernder Aktivität von Lehrern – Erziehern notwendig.

Dimension Echtheit [6]

Unechtheit

-2

-1

0

1

2

Echtheit

  • Lebt hinter einer Fassade;
  • sagt Gegensätzliches zu dem, was er denkt und fühlt; gibt sich anders als er wirklich ist;
  • amtlich – professionelles – berufsmäßiges – routinemäßiges Gehabe;
  • gekünstelt – mechanisch;
  • spielt eine Rolle;
  • rituelles Gehabe;
  • kein Ausdruck tieferer Gefühle;
  • will andere manipulieren, täuschen;
  • Diskrepanz zwischen momentanem Erleben sowie Äußerungen und Verhalten;
  • Äußerungen dienen der Verteidigung, damit andere das eigentliche Selbst nicht wahrnehmen können

 

 

 

 

 

  • Lebt ohne Fassade;
  • sagt nicht Gegensätzliches zu dem, was erfühlt und denkt;
  • ist er selbst, ohne professionelles Gehabe;
  • spielt keine Rolle;
  • sagt, was er fühlt und denkt (mit Respekt und Rücksicht auf die Gefühle anderer);
  • ist bereit, das zu sein, was er ist;
  • ungekünstelt, nicht eingeübt;
  • steht hinter seinen Äußerungen;
  • ist vertraut mit dem, was in ihm vorgeht;
  • Ausdruck tieferer Gefühle;
  • ist ehrlich auch sich selbst gegenüber, macht sich nichts vor;
  • akzeptiert Gegensätze in sich und gibt sie auch zu.

 

Auswirkungen von Echtheit des Lehrers – Erziehers auf Jugendliche; Echtheit und Fassadenfreiheit des Jugendlichen wird gefördert, Jugendliche kommen in größeren Kontakt zu ihren Gefühlen und ihrem Selbst, Verminderung der Tendenz, später „Träger“ von Ämtern und Ideologien zu werden, tiefe konstruktive menschliche Begegnung Erzieher – Jugendlicher, wenn Erzieher zugleich hoch in der emotionalen Dimension sowie in tiefgreifendem Verständnis.

Auswirkungen von Unechtheit des Lehrers – Erziehers : Jugendlicher ist sich im unklaren über Person des Erziehers, entwickelt selbst Fassade, vermindert Kontakt zu eigenen Gefühlen und zu seinem Selbst, Tendenz zu Konformismus und Opportunismus, Zunahme innerer Spannungen, Zunahme der Diskrepanz zwischen innerem Erleben und Verhalten – Äußerungen bei Schülern, Förderung von Neurotizismus. Bei Unechtheit des Erziehers wirkt sich emotionale Anteilnahme und Interesse sowie eine engagierte Aktivität eher destruktiv und angsterregend auf den Jugendlichen aus.

Ein deutliches Ausmaß von Echtheit des Erziehers ist gemäß den Annahmen und Befunden eine notwendige Bedingung für eine konstruktive Entwicklung der Persönlichkeit des Jugendlichen. Wichtig ist: Echtheit erfordert nicht, daß eine Person alles in dem Augenblick äußert, was augenblicklich in ihr vorgeht, was sie fühlt und denkt. Sondern Echtheit meint : was eine Person äußert oder wie sie sich verhält, dies steht in Übereinstimmung mit ihren inneren Erlebnissen. Ferner : Echtheit bei gleichzeitiger emotionaler Kälte, Passivität und bei keinem tiefgreifenden Verständnis für die andere Person ist destruktiv.

 

 

 

Dimension tiefgreifendes Verstehen der inneren Welt des Kindes - Jugendlichen [7]

 

 

1

2

3

4

5

 

  • kein Eingehen auf die Äußerungen des Jugendlichen, oder
  • kein Eingehen auf die ausgedrückten oder dahinterliegenden Gefühlsinhalte
  • Ausgehen vom vorgefaßten Bezugspunkt, der den Jugendlichen völlig ausschließt
  • Äußerungen des Erziehers bestehen entweder aus Belehrungen, Ermahnungen u.a. oder externalen Inhalten
  • versteht den Jugendlichen anders, als dieser sich selbst erlebt
  • nicht bemüht, die Welt mit den Augen des Jugendlichen zu sehen

 

 

 

 

 

  • Vollständiges Erfassen der vom Jugendlichen geäußerten Gefühlsinhalte und persönlichen Bedeutungen
  • Gefühlsinhalte und Bedeutungen des Jugendlichen werden tiefer ausgedrückt, als er es selbst konnte
  • Stimme und Sprechweise des Erziehers drücken Gefühle aus, die dem Erlebten des Jugendlichen angemessen sind
  • Mitteilung, was er von der inneren Welt des Jugendlichen verstanden hat
  • versteht den Jugendlichen, so wie dieser sich im Augenblick selbst sieht
  • hilft dem Jugendlichen, die Bedeutung dessen zu sehen, was er gesagt hatte
  • ist dem Jugendlichen nahe in dem, was dieser denkt und sagt
  • zeigt durch seine Äußerungen das Ausmaß an, wie weit er die Welt durch die Augen des Jugendlichen sieht

 

Auswirkungen eines hohen Ausmaßes der Dimension tiefgreifendes Verstehen : Erfahrung tiefen Verstandenwerdens beim Jugendlichen, weitere Aussagen des Jugendlichen über bedeutsame Aspekte seiner inneren Erlebniswelt (Selbstexploration), Förderung der psychischen Funktionsfähigkeit, Abnahme psychischer Beeinträchtigungen, Zunahme innerer Ruhe, gefühlsmäßiger Sicherheit und körperlicher Entspannung, größeres Vertrauen zu sich selbst. Diese Auswirkungen treten nur ein bei gleichzeitig größerem Ausmaß von Wärme – Wertschätzung sowie Echtheit.

Auswirkungen fehlenden tiefgreifenden Verstehens der inneren Welt des Partners : keine Öffnung des Jugendlichen, keine Erfahrung des Verstandenwerdens, keine Selbstexploration, Zunahme von Fassadenhaftigkeit, Zunahme innerer Spannungen, Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit.

Ein hohes Ausmaß in der Dimension tiefgreifendes Verstehen der inneren Welt des Jugendlichen durch den Erzieher ist entsprechend den Erziehungszielen und Grundqualitäten zwischenmenschlichen Zusammenlebens sehr wünschenswert.

 

Dimensionen verständlicher Wissens- und Informationsübermittlung

Hierzu haben wir in den letzten 3 Jahren intensive empirische Untersuchungen durchgeführt. Denn bei unseren Unterrichtsbesuchen stellten wir häufig fest : Manche Lehrer verhalten sich gegenüber den Schülern ihrer Klasse achtungsvoll – wertschätzend – warm sowie wenig lenkend. Aber die Art, wie sie sich beim Lehrervortrag ausdrücken, wie sie etwa eine Rechenprozedur oder eine Geschichtsvorgang erklären, war oft so kompliziert, so ungegliedert und so langatmig – weitschweifig, daß die Schüler den Unterrichtsstoff schwer verstanden und dann unruhig und unzufrieden wurden. Daraus ergaben sich häufig Konflikte Lehrer – Schüler. Lehrer meinten dann fälschlich, die Konflikte würden durch ihr achtungsvolles – wertschätzendes sowie wenig lenkendes Verhalten verursacht, während in Wirklichkeit die Konflikte durch die unbefriedigende Art der Informationsdarbietung bedingt wurden.
Diese Untersuchungen über die Dimensionen der Verständlichkeit bei der Wissensübermittlung sind in einem Buch mit einem Selbsttrainingsprogramm für Lehrer dargestellt
Ergebnis der Untersuchungen : Das Ausmaß von 4 Dimensionen in Lehrtexten sowie in der mündlichen Informationsdarbietung von Lehrern ist entscheidend für das Ausmaß des Verstehens und Behaltens seitens der Schüler – Studierenden.
Im folgenden eine kurze Darstellung der Dimensionen aus diesem Buch samt Einschätzungsskalen :

Einfachheit

 

Einfachheit

+2

+1

0

-1

-2

Kompliziertheit

  • einfache Darstellung
  • kurze einfache Sätze
  • geläufige Wörter
  • Fachwörter erklärt
  • konkret
  • anschaulich

 

 

 

 

 

  • komplizierte Darstellung
  • lange, verschachtelte Sätze
  • ungeläufige Wörter
  • Fachwörter nicht erklärt
  • abstrakt
  • unanschaulich

 

Gliederung - Ordnung

 

Gliederung - Ordnung

+2

+1

0

-1

-2

Ungegliedertheit, Zusammenhanglosigkeit

  • gegliedert
  • folgerichtig
  • übersichtlich
  • gute Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem
  • der rote Faden bleibt sichtbar
  • alles kommt schön der Reihe nach

 

 

 

 

 

  • ungegliedert
  • zusammenhanglos, wirr
  • unübersichtlich
  • schlechte Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem
  • man verliert oft den roten Faden
  • alles geht durcheinander

 

Kürze - Prägnanz

 

Kürze - Prägnanz

+2

+1

0

-1

-2

Weitschweifigkeit
  • zu kurz
  • aufs Wesentliche beschränkt
  • gedrängt
  • aufs Lehrziel konzentriert
  • knapp
  • jedes Wort ist notwendig

 

 

 

 

 

  • zu lang
  • viel Unwesentliches
  • breit
  • abschweifend
  • ausführlich
  • vieles hätte man weglassen können

 

Zusätzliche Stimulanz

 

Zusätzliche Stimulanz

+2

+1

0

-1

-2

Keine zusätzliche Stimulanz
  • anregend
  • interessant
  • abwechslungsreich
  • persönlich

 

 

 

 

 

  • nüchtern
  • farblos
  • gleichbleibend neutral
  • unpersönlich

 

Die Auswirkung der 4 Dimensionen der Verständlichkeit auf das Verständnis und Behalten gemäß den Unterrichtsbefunden : Die wichtigste Dimension für Verständnis und Behalten ist Einfachheit. Eine hohe positive Ausprägung in dieser Dimension ist für ein leichtes Verständnis erforderlich. – Von erheblicher Bedeutung ist auch die Dimension Gliederung – Ordnung. Eine hohe Ausprägung ist auch hier unerläßlich. – Die Dimension Kürze – Prägnanz behindert in beiden Extrembereichen das Verstehen und Behalten (zu kurz – gedrängt oder zu langatmig). Da Optimum liegt mehr in der Mitte. – Die Dimension zusätzliche Stimulanz ist verständnisfördernd bei gleichzeitiger hoher Ausprägung in Gliederung – Ordnung. Bei ungegliederten, ungeordneten Texten trägt sie jedoch zur Verwirrung des Lesers bei.

Tausch &. Tausch :
Wesentliche Verhaltensdimensionen von Lehrern, Dozenten,
Erziehern in Erziehung und Unterricht.
In: Die Deutsche Schule, Heft 2/75

 

Arbeitsauftrag:

 

Literatur:

[1] s. Tausch / Tausch : Erziehungspsychologie, 1973, S. 7 - 10

[2] a.a.O. S. 13 - 17

[3]  a.a.O. S. 317 ff.

[4]  a.a.O. S. 204 ff.

[5]  a.a.O. S. 165 ff.

[6] a.a.O. S. 336 ff.

[7] a.a.O. S. 344 ff.

[8] Langer / Schulz v. Thun / Tausch : Verständlichkeit in Schule Verwaltung, Politik, Wirtschaft; München 1974

Langer, I., Schulz v. Thun,F. u. Tausch, R.: Verständlichkeit in Schule, Verwaltung, Politik, Wirtschaft; mit einem Selbsttrainingsprogramm, Reinhard, München, 1974

Rogers, C. R.: Encounter-Gruppen. Das Ergebnis der menschlichen Begegnung, Kindler, München 1974

Tausch, R. u. Tausch, A.: Erziehungspsychologie. Hogrefe, Göttingen, 7. Auflage 1973

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13. Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik

Experimente über den sozialen Raum (1939)

 

demokratisch

 

autoritär

Während der Zusammenkünfte der beiden Gruppen notierten die Beobachter nach Zeiteinheiten die Anzahl der Vorfälle und Handlungen.

 

Lewin, K. (1968): Die Lösung sozialer Konflikte.
Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik, Bad Nauheim, 3. Aufl. 1968

Arbeitsauftrag:

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14. Die Geschichte von Hans Hefeteig

Hans Hefeteig will Bäcker werden. Er hat 12 Semester studiert ‑ die Fächer Roggenbrötchen, Sesamhörnchen und allgemeines Bäckereiwesen ‑ und das Erste Backexamen mit "gut" bestanden.
Hans hat viel gelernt im Studium. Zum Beispiel, wie Mehl auf rätoromanisch heißt und daselbst dekliniert wird, wie die Flugbahn eines vom Blech fallenden Brötchens mit Hilfe der Sinusfunktion berechnet wird und wie und weshalb sich die Zielgruppe für Apfeltaschen in den letzten Jahren verändert hat. Er weiß Bescheid über die allmähliche Verfertigung der Brötchen beim Backen, er kennt den schmalen Grat zwischen braun und angebrannt. Nur eines hat er nicht gelernt: Brötchen zu backen.
Aber dafür gibt es ja den zweiten Teil derAusbildung; und Hans ist froh, einen Ausbildungsplatz bekommen zu haben. Anfangs hatte er sich darüber gewundert, dass er zwei Betrieben gleichzeitig zugewiesen worden war: dein Zentralen Backstudio (das es in der Stadt nur einmal gab) und einem Bäckereibetrieb (von denen es viele gab, wie er bald merkte). Nun gut, hatte er sich gesagt, doppelt hält besser. Und eifrig hatte er in der ersten Woche den Vortragenden im Backstudio gelauscht, alles mitgeschrieben und vieles für gut befunden:
Die Idee der Binnenblechdifferenzierung hatte ihm gefallen; die Notwendigkeit eines heißen Impulses zu Beginn einer Backeinheit hatte ihm eingeleuchtet; die Methode des Offenen Backens hatte ihn begeistert, der Gedanke, die Brötchen dort herauszunehmen, wo sie drin sind, hatte ihn geradezu fasziniert. Er hatte ein Referat gehalten über das Thema "Weshalb Hörnchen mit der Öffnung nach links auf dein Backblech liegen sollten" und mehrere Aufsätze über die Notwendigkeit der Beigabe einer Prise Weizenmehl bei Roggenbrötchen gelesen.
Und dann war der erste Tag in der Bäckerei gekommen. Der Bäckereileiter hatte ihn freundlich begrüßt, ihm alles gezeigt und ihm die für die Roggenbrötchen oder Sesamhörnchen zuständigen Bäcker und Bäckerinnen vorgestellt. "Ganz schön mehlig hier", hatte Hans gedacht. Doch bald war ihm klar geworden, dass die grauen Haare der Bäcker echt waren.
Alle waren sehr freundlich zu ihm gewesen; jeder Bäcker, jede Bäckerin hatte sich grundsätzlich bereiterklärt, Hans anzuleiten.
Jedoch ‑ der eine war gerade zwei Wochen krank gewesen und hatte viel nachzuarbeiten; der zweite hatte ihm den Teig, den er gerade bearbeitete, nicht zumuten wollen; der dritte war selber neu in dieser Bäckerei; der vierte hatte zur Zeit nichts mit Roggenbrötchen oder Sesamhörnchen zu tun.
Bei der fünften Anfrage hatte Hans Glück: Bäckermeisterin Keks hatte ihn genommen. "Ich kann Sie ohne Schwierigkeiten anleiten", hatte sie erklärt, "weil ich nur einen halben Backauftrag habe. Meine Kollegen sind zum Teil überlastet und fühlen sich zum Anleiten nicht in der Lage. Sie schaffen es wirklich nicht, jeden Backvorgang vor‑ und nachzubesprechen. Bei einem Blech Entlastung sähe es sicher anders aus. Außerdem haben wir in dieser Bäckerei gerade enorme Probleme mit den vielen Backformwechslern‑ und wechslerinnen! Das schlimmste allerdings" ‑ Bäckerin Keks war richtig in Fahrt gekommen ‑ "sind für die Anleiter die abschließend geforderten Gutachten! Wenn wenigstens eines pro Auszubildenden reichte! Aber nein! Seit neuestem verlangen die von jedem Bäcker ein Gutachten, dein ein Auszubildender nur einmal auf Blech geschaut hat! Aber nichts für ungut", hatte Bäckerin Keks ihre Ausführungen beendet, "dafür können Sie ja nichts. Kommen Sie morgen rechtzeitig, sehen Sie sich alles an, darin dürfen Sie übermorgen ans Blech!"
 Das war der erste Tag gewesen, ein wenig verwirrend für Hans. Der zweite Tag wurde nicht weniger verwirrend: Frau Keks hatte die Hörnchen mit der Öffnung nach rechts auf das Blech gelegt, sich gegen eine Beimischung von Weizenmehl zum Roggenteig ausgesprochen und sich abfällig über die Methode des Offenen Backens geäußert.
,Bäckerei und Backstudio scheinen sich ja nicht gerade gut abzustimmen', hatte Hans gedacht, verwundert und verunsichert.
Inzwischen hat Hans sich arrangiert. Er ist weiterhin angetan von den Ideen aus dem Backstudio, setzt ab und zu einiges davon in der Bäckerei in die Tat um ‑ und hält sich im übrigen beim Backen an die im Betrieb seit Jahren üblichen Backmethoden.
Aufregend wird es jedes Mal, wenn Besuch kommt, Spezialisten aus dein Backstudio. Letzten Mittwoch war folgendes passiert: "Fetten Sie das Blech kräftig ein!" hatte Frau Keks vor der Visitation geraten. Hans hatte den Ratschlag befolgt. Alles war einigermaßen gut gegangen, wenn auch der Backentwurf nicht ganz eingehalten wurde. Die Visitatoren waren zufrieden, wie sich bei der Besprechung ‑sie war endlos wie immer herausstellte. Nur eines hatte ihnen nicht gefallen: "Auf keinen Fall", hatten sie kritisiert, "dürfen Sie das Blech so kräftig einfetten!" ‑ Peinliche Stille. Frau Keks war ein wenig rot geworden, hatte ein wenig gezögert, sich aber dann zu ihrem Ratschlag bekannt. ‑ Peinliche Stille. Die Visitatoren waren auch ein wenig rot geworden, hatten verlegen gelächelt und sich dann überraschend über die zweifellos ebenfalls vorhandenen Vorteile des kräftigen Einfettens geäußert.
Nun hat Hans ein wenig Angst vorm Zweiten Backexamen, vor allem dem Prüfungsvorbacken unter Aufsicht des Obermeisters von der Backinnung. Und ob er eine Stelle bekommt? Die Aussichten sind schlechter geworden, seit der Betriebsrat den 3/4‑Brötchen nicht mehr zustimmt.
Gestern hat Hans seine alte Freundin Tanja Tafelbild getroffen und ihr sein Leid geklagt. Sie hat ihm zugehört, ihm Mut gemacht und hinzugefügt: "Hättest du dich nur für den Lehrerberuf entschieden, so wie ich. Was du da erzählst, Auseinanderklaffen von Praxis und Theorie, so etwas gibt es bei uns nicht. Aber kein Wunder: Mit Kindern geht es halt leichter als mit Brötchen!"

Annelies Paulitsch (Aus:" Hamburg macht Schule "2/1993)

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