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Kommunikation

8. Kommunizieren

8.2 Die Lehrerpersönlichkeit

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Persona
Inhalt:
  1. Problemaufriss
  2. Janusz Korczak
  3.  

1. Problemaufriss

Unter "Persona" verstand man im alten griechischen Theater den Schauspieler, der eine Maske trug und damit jemanden repräsentierte. Diese Auffassung entspricht in etwa dem soziologischen Rollenkonzept. Das Rollenmodell erklärt zwar verschiedene Verhaltensweisen/ Auftrittsweisen in verschiedenen Situationen und erklärt damit verbundene Rollenkonflikte (vergl. Geißler), doch greift es etwas zu kurz. Auch wenn ich verschiedene nebeneinander berufliche/private Rollen spiele, so habe ich persönliche den Eindruck, diese passt zu mir, die übe ich ungern aus, das kann ich nicht, ... Wir haben als ein "Metabewusstsein", eine "Metaerzählung" von dem, was mir entspricht, was zu mir passt bzw. nicht passt. "Mein wirkliches Selbst".
Verschiedene Schulen der Psychologie versuchen diese Selbsterfahrung und ihre Entstehung zu objektivieren.


In der der Persönlichkeitspsychologie wurde sehr lange der Begriff Charakter zur Beschreibung von Wesensmerkmalen eingesetzt. Der moderne Persönlichkeitsbegriff wurde je nach Schule als veränderbare "Charakterausstattung" bzw. als stabiles , mehr oder minder kaum veränderbare Merkmale eines Individuums angesehen. Die Präsentation stellt die Grundzüge für die empirische Konstruktion des Begriffes Persönlichkeit zur Verfügung und erläutert, wie Typisierungen gebildet werden.

Wiederum gehen heutige medizinisch orientierte Ansätze davon aus, dass wir nicht nur eine sondern mehrere Persönlichkeit haben , die sich in verschiedenen Kontexten zeigen. Das "Selbst" - ein neuerer Begriff - wiederum sei nur eine Fiktion des Gehirns, dass mein Handeln in einen Zusammenhang stellt, das einen zeitlich übergreifenden Akteur vorgaukelt. (Wir benötigen eine Instanz, die uns "erzählt", dass das Kind auf dem Bild und die Person, die sich im Spiegel betrachtet, die gleiche Person ist. Bei bestimmten Krankheitsbildern, verlieren Menschen ihre Vergangenheit bzw. ihre Zukunft.) Wir erzählen uns eine Geschichte "Das bin ich" und wenn ich mal "daneben lag", sagen wir von uns bzw. andere von uns "Das war nicht ich. Das war der Alkohol, ..."

Zur Entwicklung des Persönlichkeitsbildes verfolgen sie bitte die verschiedenen Aufsätze.

Warum Persönlichkeit als Thema der Lehrerausbildung?

1. Im pädagogischen Bereich werden seit alters her besondere Ansprüche an die Persönlichkeit eines Erziehers, Pädagogen bzw. Lehrers gestellt, da der Umgang mit meist jüngeren, abhängigen Personen ein großes Gefährdungspotential besitzt. Dieses Gefährdungspotential ist wechselseitig, wie es beispielhaft in den Gegensatzpaaren "Macht - Ohnmacht", "Freiheit - Abhängigkeit", "Zuneigung - Ablehnung" etc. verdeutlicht werden kann.

2. Im Allgemeinen ist die Persönlichkeit des Lehrers der nonverbale Faktor, der den pädagogischen Bezug entscheidend prägt. Das Lernen am Vorbild ist empirisch abgesichert (vergl.bei den Lerntheorien Bandura) ein wirksames Element im Unterricht. Wenn Sie zudem die 10 Merkmale des guten Unterrichts heranziehen, sind natürlich auch Strukturiertheit, ... mit Wesenszügen der Lehrperson verknüpft.

3. Da aber die Persönlichkeit zum großen Teil - nach Aussagen der Persönlichkeitspsychologen und der modernen Hirnforschung - ein kaum veränderbarerer, stabiler Zug ist, ergibt sich damit auch die Frage: "Sind alle Personen für das Berufsfeld Erziehung geeignet?

4. Wir alle bringen in den Unterricht unsere subjektiven Theorien über uns, über die Schüler/Eltern, ... ein. Die Kenntnis der "der eigenen Stärken/Fallen in mir" gehören zur Grundausstattung von Professionalität (vergl,. den Abschnitt über Korczak).

These: Reflexion der eigenen Lern- und Entwicklungsbiographie sind eine unabdingbare Voraussetzung für das professionelle Selbstbild und die Berufsausübung.

 

Ein biographisches Beispiel für einen Erzieher, der die eigenen Bedürfnisse im erzieherischen Bezug verwirklicht, war Janusz Korcak. Diese idealtypische Person, sollte aber im Sinne eines professionellen Verhältnisses auch kritisch betrachtet werden.

Aufsätze zur Lehrerpersönlichkeit durch die Jahrhunderte und zur Problematik des Begriffes finden Sie in den Registerkarten unten.

 

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2. Janusz Korczak ein Beispiel

2.a. Janusz Korczak ( 1878-1942)

Erziehungsziel:

  • Freie Entfaltung aller menschlichen Anlagen
  • Welt ohne Unterdrückung
  • Gegenseitige Achtung
  • Anerkennung der Einzigartigkeit jeder Person
  • Befreiung der Kinder aus dem Zustand der Unterdrückung
  • Kinder brauchen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung; sie müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen

Schlüsselbegriffe:

Rechte des Kindes :

  • Recht auf Tod
  • Recht auf den heutigen Tag
  • Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist
    1. Vorbehaltlose Liebe
    2. Kameradschaftsgericht
    3. Parlament
    4. Tafel
    5. Dienste
    6. Briefkasten


    Standortbestimmung:

  • Korczak steht ganz in der Tradition der Pädagogik „Vom Kinde aus“ (Ellen Key, Berthold Otto)
  • Steht Pestalozzi nahe

Zum Nachdenken: Sätze von Korczak:

  • Ist unser Verhältnis zu den Kindern vielleicht nicht ein Ausdruck des Egozentrismus der Erwachsenen?
  • Wie oft gleichen wir dem Kinde, das der Katze eine Schleife an den Schwanz gebunden hat, sie mit einer Birne füttert, ihr seine Zeichnungen zeigt und verwundert ist, dass die Undankbare sich taktvoll verdrücken will oder verzweifelt zu kratzen anfängt.
  • Einer der schlimmsten Fehler besteht darin anzunehmen, dass die Pädagogik eine Lehre über das Kind und nicht eine Lehre über den Menschen sei.
  • Literatur:

„Wie man ein Kind lieben soll“ (Göttingen 1979)
„Das Recht des Kindes auf Achtung“ (Göttingen 1973)

Eine kurze Zusammenfassung von Nina Karras

2.b. Der Erzieher bei Janusz Korczak

Die ganze moderne Pädagogik trachtet danach, bequeme Kinder heranzubilden, sie strebt konsequent und Schritt für Schritt danach, alles einzuschläfern, zu unterdrücken und auszumerzen, was Willen und Freiheit des Kindes ausmacht, seine Seelenstärke, die Kräfte seines Verlangens und seiner Absichten. Artig, gehorsam, gut, bequem, aber ohne einen Gedanken daran, dass es innerlich unfrei und lebensuntüchtig sein wird.
[1; S. 12]

Diese Zitat umfasst die ganze Bandbreite der Auseinandersetzung von J. Korczak mit der zeitgenössischen Pädagogik. "Vom Kinde aus" argumentiert er für die Stärkung des kindlichen Selbst. Damit zeigen sich erstaunliche Parallelen zu den Beobachtungen und Forderungen der Humanistischen Psychologie und Pädagogik der letzten Jahre:

Der vermutlich wichtigste Beitrag der humanistischen Psychologie der letzten dreißig Jahre ist die Betonung des Selbst-Konzeptes als Faktor des menschlichen Wachstums und Verhaltens. Das Selbstbild und die Grundannahmen über sich selbst sind ein vitaler Bestandteil jeder Aktivität eines Individuums.
Menschen verhalten sich nachdem, was sie über sich selbst annehmen. Diejenigen, die glauben, dass sie etwas können, können es; die, welche es nicht glauben, können es nicht.
Ausführliche Forschung hat uns gezeigt, dass das Selbstkonzept ein zentraler Faktor beim Erfolg oder Misserfolg eines Menschen in der Schule, im Beruf oder in der sozialen Interaktion darstellt.
[2; S. 65]

Die Überschneidung von Korczaks Ideen mit den Gedanken der Humanistischen Pädagogik näher herauszuarbeiten und die Anforderungen an das Erzieherverhalten zu präzisieren, soll das Ziel des Beitrags sein.
Zu diesem Zwecke werden exemplarisch die Forderungen Korczaks vorgestellt und mit denen der Humanistischen Richtung verglichen.
Dabei soll aber nie vergessen werden, dass Korczak selbst seine Forderungen vor lebte.
Der Einfachheit halber gehe ich von der praktischen "Erzieherpersönlichkeit" aus, weil sich Verhalten nur in der Interaktion mit anderen zeigt.

1. Forderungen an die Persönlichkeit des Erziehers.

1.1. Sei unvoreingenommen:

Du, der du schon mit Kindern zu tuns hast, du sollst dich lieber freuen! Du bist schon dabei, deine Vorurteile, deine sentimentalen Ansichten über Kinder aufzugeben. Du weißt bereits, dass du nichts weißt. Kinder sind nicht so wie du gemeint hast, sie sind ganz anders.
[ 1; S.156]

Die Achtung des Anderen verlangt die Respektierung und Würdigung des anderen Menschen als einzigartigem Wesen [3].
Eigene Denkschemata werden zu schnell dem Anderen übergestülpt. Dabei wird leicht übersehen, dass der Andere in seinem Anderssein eigene Entwicklungsmöglichkeiten besitzt. Er hat mit seinen spezifische Stärken auch das Recht, auf den eigenen Weg. Aus dieser Forderung Korczaks ergibt sich auch logisch seine zweite.

1.2. Erkenne Dich selbst:
Habe Mut zu dir selbst und such deinen eigenen Weg. Erkenne dich selbst, bevor du die Kinder zu erkennen trachtest.
Leg dir Rechenschaft darüber ab, wo deine Fähigkeiten liegen, bevor du damit beginnst, Kindern ihre Rechte und Pflichten abzustecken.
Unter ihnen bist du selbst ein Kind, dass du zunächst einmal erkennen, erziehen und ausbilden musst.

[1; S.156]

Da jeder Mensch einzigartig ist, kann sich auch jeder Erzieher entscheiden, seinen ihm gemäßen Erzieherstil zu erwerben. Den Weg dazu kann er in diesem Sinne nur finden, wenn er selbst Zugang zu seinen eigenen kindlichen Erfahrungen, Ängsten, Nöten und Freuden hat.
Verletzungen (etwa des Kind-Ichs im Sprachgebrauch der TA [4]) in der Kindheit zu erkennen und sich mit ihnen zu versöhnen, setzt Risikobereitschaft voraus.
Das ist eine Absage an genau definierte Erziehungsmethoden, die für jedes Kind und für jeden Erzieher zu gleichen Ergebnissen führen.
Gleichzeitig besteht jederzeit "Verletzungsgefahr - Versagensgefahr": Die Angst "Fehler" zu machen und auch die Angst wegen etwaiger "Fehler" angegriffen zu werden.

Du hast keine Zeit; du kannst nicht ständig Acht geben und nachdenken, um die verborgenen Gründe offensichtlich unsinniger Wünsche aufzuspüren, kannst nicht immer in die unerforschlichen Gebiete kindlicher Logik, Phantasie und Wahrheitssuche eindringen - dich nicht immer mit seinem Sinnen und Trachten beschäftigen.
Du wirst all diese Fehler begehen; denn nur der allein begeht keine Fehler, der überhaupt nichts tut.

[1; S. 180]

"Gute Erzieher" unterscheiden sich von schlechten Erziehern durch die Anzahl der begangenen Fehler, des begangenen Unrechts. Der erstere begeht einen Fehler nur wenige Mal und ist sich dessen bewusst. Er steht zu ihnen, während der "schlechte" Erzieher den "Kindern die Schuld am eigenen versehen gibt" [1; S.182].


Korczak sieht wie die Humanistische Psychologie, dass "Fehler" die Möglichkeit der Veränderung bis hin zu persönlichem Wachstum bieten.
Jeder Erzieher hat eine wichtige Ressource in sich: Das Kind, das es zu entwickeln gilt. Im Spiel, Rollenspiel und Theater, wird es beim Erwachsenen mehr oder minder sichtbar ( "Er kann spielen")
Wer noch "ein Kind", die "Jugend" in sich hat, besitzt also noch einen "einen wundertätigen Bundesgenossen, einen Zauberer gar in sich", der "... der kritischen, unbeholfenen Erfahrung" weit überlegen ist [1; S. 157]

Aufgabe des Erziehers ist es also, dieses Kind in sich wieder zu finden und zu beleben.

1.3 Sei du selbst:

Wenn es dem Erzieher gelingt, sich selbst zu erkennen, steht er auch zu sich selbst. Er setzt seine Kräfte und Stärken in angemessener Weise um. Erkannte "Schwächen" werden zu Helfern auf dem Entwicklungsweg. Nach Carl Rogers [3] handelt er jetzt kongruent: verbales und nonverbales Verhalten bilden eine Einheit. Beziehungsfallen (double binds [siehe 5]) werden erkannt und vermieden. Oder er vermeidet in der Rolle des Erziehers, sich einfach lächerlich zu machen:

Du sollst ihr Vorbild sein; aber wie kannst du dich vor deinen Fehlern, deinen lächerlichen und schlechten Gewohnheiten hüten?
Du wirst sie zu verbergen suchen. Gewiss wird dir das gelingen; je sorgsamer du sie verbirgst, um so eifriger werden sich die Kinder so verhalten, als bemerkte sie gar nichts; aber im leisen Flüsterton werden sie dich verspotten.

[1; S.158]

Wie bei der Humanistischen Psychologie gibt es nicht "die eine richtige Lösung" für das Verhalten in schwierigen Situationen. Es gibt nur menschliche Stärken (Ressourcen) z.B. Demut, Geduld und Humor, die Alternativen zur Lösung der alltäglichen Schwierigkeiten anbieten.

Wenn du keine achtungsgebietende Statur und keine starke Lunge besitzt, wirst du dich vergeblich bemühen, mit erhobener Stimme den Lärm einer Kinderschar zu übertönen. Du hast ein gütiges Lächeln und Augen, aus denen Geduld spricht - sage nichts. vielleicht geben sie von sich aus Ruhe. Sie suchen sich ihren eigen Weg.

[1; S. 157]

Das Vertrauen in die Entwicklung des anderen, dass dieser von sich aus Lösungen finden kann, entspricht der Einsicht, dass nur der Gegenüber "die Lösung auch in sich hat". Deshalb wird der Erzieher in schwierigen Situationen auf sich zurückgeworfen, er hält seine Lösungsvorschläge zurück und "provoziert" die Nachdenkvorgänge beim Gegenüber.
Ein idealer Erzieher bleibt mit all seinen Fehlern Mensch und kann deshalb sogar im Misslingen ein Beispiel werden, wenn er zeigt, wie er mit seinen Schwächen umgeht.

1.4. Entscheide dich:

Im Unterricht sind fortlaufend Entscheidungen zu treffen. Jede Entscheidungssituation ist neu oder unterscheidet sich in Kleinigkeiten von einer bereits bekannten. Das Handeln nach der Entscheidung ist offen, die Auswirkungen ungewiss.
Entscheidungen, die nach Tausch & Tausch [6] die Variablen Wärme, Einfühlungsvermögen, Achtung, Rücksichtnahme, Verstehen und Echtheit (Kongruenz) berücksichtigen, tragen zu einer konstruktiven Persönlichkeitsentwicklung bei.

Da vor der Entscheidung jedoch die Analyse der Situation steht, verlangt Korczak von einem Erzieher, dass er in der Lage ist, genau die Sachverhalte zu beobachten.
Sensorische Daten können dem Erzieher manchmal mehr verraten als die pädagogische Theorie. Im Seminar der Bursa schulte er deshalb seine Erzieher in der Beobachtung "... kleiner Vorkommnisse, scheinbar unbedeutender Fakten, die aber in Wirklichkeit sehr aufschlussreich sind ..." [6; S. 174]
Den Wert der neutralen, genauen Beobachtung lernte er als Arzt kennen:

"Mein Kind ist eigentlich gesund, ihm fehlt nichts. Ich möchte nur, dass sie es ansehen."
Ich sehe es mir an; gebe ein paar Anweisungen, beantworte einige Fragen. Es ist ja gesund, lieb und fröhlich. "Auf Wiedersehen!"
Noch am selben Morgen oder am Tag: "Herr Doktor mein Kind hat Fieber."
Die Mutter hat bemerkt, was ich als Arzt bei einer oberflächlichen Untersuchung während der kurzen Visite nicht entdecken konnte. Stundenlang über das Kleine gebeugt, ohne Kenntnis von Beobachtungsmethoden, weiss sie nicht, was sie wahrgenommen hat, sich selbst misstrauend, wagt sie es nicht, sich zu ihren eigenen subtilen Beobachtungsmethoden zu bekennen. Und sie war darauf aufmerksam geworden, dass das Kind, ohne eigentlich heißer zu sein, doch eine etwas mattere Stimme hatte. Es plapperte seltener und ein bisschen leiser ....

[1; S.15;]

Weitere Beispiele für Korczaks Beobachtungsmethoden auf 1 S. 220 ff.]

Eine Berücksichtigung feinster ( oder auch gröberer) physiologischer Veränderungen und die Beobachtung weiterer nonverbaler Hinweisreize sind Werkzeuge der "Neuen Hypnose" nach Milton H. Erickson und im NLP. Das Erkennen verschiedener Zustände und die Nutzung von Lernphysiologien bzw. das Unterbrechen von Angstphysiologien beschreibt unter vielen anderen M. Grinder.

1.5. Widme dich ganz den Kindern
Was sind deine Pflichten?
Wachsam sein. Wenn du Aufseher sein willst, brauchst du nichts zu tun. Wenn du ein Erzieher bist, dann hast du einen sechzehnstündigen Arbeitstag, ohne Pause, ohne Feiertag - einen Tag, der aus Arbeiten besteht, die sich weder beschreiben noch wahrnehmen noch kontrollieren lassen, und aus Worten, Gedanken und Gefühlen besteht, die tausend Namen haben.
Äußere Ordnung, dem Anschein nach gutes Benehmen, Disziplin, die sich sehen lassen kann -, dazu bedarf es nur einer harten Hand und zahlreicher verbote.
Und die Kinder sind immer Märtyrer der Besorgnis um ihr angebliches Wohlergehen; das schlimmste Unrecht hat hier ihren Ursprung.

In Abgrenzung zu den allgemein anerkannten Erziehungszielen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist der Erzieher nach Korczak am Kinde orientiert. Um der Aufgabe aber zu genügen, ist er aber auch verpflichtet, seine Kraft einzuteilen:

Wenn ein Erzieher günstige Arbeitsbedingungen vorfindet - um so besser. Wenn sie aber so sind, wie ich sie beschrieb, dann soll er seine Kraft und Energie vernünftig einteilen - sie muss eine längere Zeit als die ersten paar Monate reichen.

Im Extrem führt das Erzieherideal bei Korczak dazu, dass sich ein Erzieher nicht durch die Schwierigkeiten belasten soll, die ein eigenes Familienleben mit sich bringt. Dieser "ideale Erzieher" verzichtet auf sein Intim- und Privatleben im Dienste seiner Schüler. (Die Forderung nach dem Zölibat der Lehrkräfte stellten auch die Kinder von Barbiana).
Dieser Anspruch wird sich wohl heute nicht mehr durchsetzen lassen, doch ist seine Argumentation auch heute noch nachvollziehbar. Bitte überlegen Sie sich, wie häufig private Probleme der Lehrkräfte mit in die Schule gebracht werden und den Umgang mit den Schülern oft negativ beeinflussen. Auf der anderen Seite, unterbleibt nicht manche Problemlösung, weil die Lehrkraft "keine Zeit" mehr hat ?
[Zur weiteren Diskussion S. 6; S. 236 F.]

2. Persönlichkeitsbildung in der Lehrerbildung

Die nur kurz zusammengefassten Persönlichkeitsmerkmale nach Korczak verlangen ein intensives Training in der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Kenntnis der eigenen Biografie und der eigenen Lernerfahrungen helfen den anvertrauten Kinder/ Schüler unvoreingenommen zu begegnen,.

A. Combs [in 2; S. 255 f] kam bei der Untersuchung von "gutem" und "schlechtem" Lehrerverhalten zu ähnlichen Ergebnissen:

  1. Der "gute" Lehrer sieht sich eher positiv als negativ.
  2. Er sieht seine Probleme eher von einem internen als von einem externen Bezugsrahmen, d.h. er sieht es als wichtiger an, wie die Dinge für einen Schüler aussehen als für den Lehrer. (Empathie)
  3. "Gute" Lehrer sehen andere Menschen eher als positiv: als freundlich, fähig, vertrauenswürdig etc. während "schlechte" Lehrer Zweifel bezüglich der Fähigkeiten ihrer Schüler haben.
  4. Die Unterrichtsziele "guter" Lehrer sind eher befreiend, öffnend, ausweitend, während "schlechte" Lehrer eher einengende, kontrollierende und direktive Ziele verfolgen.
  5. "Gute" Lehrer können auf der Basis der Echtheit von Methoden, die sie verwenden, unterschieden werden. Wichtig scheint hier zu sein, dass der "gute" Lehrer echt ist in der Wahl der jeweiligen Methode, die zu ihm und den Umständen passt.

Aus dieser Analyse heraus entwickelte A. Combs folgende Grundsätze der Lehrerausbildung für seine "Florida-Gruppe":

  1. Die Entwicklung eines effektiven Lehrers ist ein "Prozess des Werdens" nicht der Perfektion.
  2. Der Prozess des Werdens baut auf einem Gefühl der Sicherheit und Akzeptanz auf.
  3. Die Lehrerausbildung baut mehr auf der subjektiven Erfahrung auf. Verhaltensschulung ist sekundär.
  4. Um wirkungsvoll mit subjektiver Erfahrung umzugehen, betonen diese Lehrerprogramme die subjektiven Aspekte der menschlichen Erfahrung.
  5. Ein individualisiertes Programm baut auf einem offenen Denksystem auf, persönliches Entdecken wird möglich.
  6. Das "Lernen von Bedürfnissen" spielt eine bedeutsame Rolle.
  7. Entdeckendes Lernen bedingt eine aktive Beteiligung der Studierenden.
  8. Weil das Selbstkonzept nach den empirischen Forschungen eine wesentliche Rolle im Lehrerverhalten spielt, wird in der Ausbildung darüber nachgedacht.
  9. Da Unterrichtsmethoden eine persönliche Art, sich selbst einzusetzen, darstellen, können sie nicht vorgegeben werden, sondern müssen entdeckt werden.
  10. Da Studenten mit allen möglichen Erfahrungshintergründen zur Lehrerausbildung kommen, sollte eine professionelle Ausbildung auch die Möglichkeit zu möglichst breitem Lernen bieten.
  11. Da Leute am besten aus ihrer eigenen Erfahrungen lernen, sollte ein Lehrerausbildungssystem in seiner Grundphilosophie und Praxis auf einer Vielfalt von möglichen Modellen aufbauen.

Wie Korczak betont Combs die subjektive Wahrnehmung des Erziehungsprozesses, die aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen, die Offenheit des Ausgangs. Er sieht als Ergebnis des Ausbildungsprozesses Menschen, die offen auf andere zugehen und die Mitmenschen von ihren positiven Ansätzen her betrachten.
Die allumfassende, selbstverleugnende Liebe Korczaks ist aber mehr.

3. Aufgaben des Erziehers

3.1.Rahmen schaffen,
in denen sich Kinder bewegen und an denen sie sich orientieren können:
In loser Gruppierung ohne feste Organisation vermögen nur wenige, außergewöhnliche Kinder zu gedeihen und sich zu entwickeln; aber Dutzende verkümmern dabei. [1; S.179]

Ein Erzieher hat also die Aufgabe, Kindergemeinschaften zu strukturieren und damit das Zusammenleben der Kinder zu erleichtern.
Eine Ordnung ist deshalb kein Selbstzweck: Sie schützt jedes einzelne Kind, besonders das "schwache". Treten neue bedürfnisse auf, kann sie jederzeit verändert, den neuen Bedürfnissen angepasst werden. Die Ordnung gewährt dem Kind Sicherheit / vergl. dazu die Ausführungen zum" handelnden Hirn"). Verstößt der Erzieher selbst gegen die Ordnung, wird er bei Korczak dem "Gericht" unterworfen.
Im Selbstverwaltungssystem Korczaks lernen Kinder miteinander reden, Konflikte auszutragen und angestellte Schäden wieder gut zu machen. Sie begreifen sich, um mit Bandura oder Seligman zu sprechen, als "Selbstverursacher".
Aus dieser Haltung heraus ist der Einsatz der Erziehungsmittel Verbot bzw. Gebot, sehr sorgfältig zu überlegen. Es besteht die Gefahr, dass Verbote und Gebote aus einer augenblicklichen Laune heraus entstehen. Solche Gebote und Verbote sind dann schwer einzuhalten.

Von der Entwicklung des Kindes her betrachtet, waren Verbote ursprünglich zum Schutz vor Gefahren ausgesprochen: z.B. Umgang mit Feuer bei einem Kleinkind. Andere werden zum Schutz der Mitmenschen gesetzt: z.B. zum Schutz vor körperlichen oder verbalen Angriffen. An diesen Verboten/ Geboten können Kinder auch Selbstbeherrschung entwickeln, aber auch an schlecht gesetzten Verboten, Phantasien, wie sie zu umgehen sind. Viele Verbote sind nach Korczak einfach überflüssig, wenn der Erzieher genügend voraus planen bzw. die Schüler/ Kinder genügend Vorbereitungszeit auf die Anforderungen erhalten würden.

Kluge & Schnell [6] sehen Korczaks Verbote und Gebote als "Grenzsetzung im Sinne der nicht-direktiven Spieltherapie" Sie sind im Grunde Grenzziehungen gegenüber jedoch skeptisch, da sie immer in der Gefahr stehen, als Rechtfertigung für unterdrückendes Verhalten zu dienen. Nur wenn "versagung und Gewährung" zusammen praktiziert würden, wären die Bedingungen für das kindliche Wachstum günstig. [vergl. 6 S. 142]
Das Wort bestrafung kommt wegen dieser Grundeinstellung bei ihnen überhaupt nicht vor.

Dagegen meint Korczak zum Strafen : Wenn beim Übertreten der Ordnung bestraft werden muss, dann muss sofort bestraft werden:

Wenn du es aber gleich bestraft hast, so hat es sich über den anderen Tag schon von dem schmerzlichen Erlebnis entfernt und ist der Versöhnung und dem vergessen näher gekommen. Wenn es aber zwei Tage nach einer Strafandrohung morgens erwacht, dann ist vielleicht schon der Augenblick einer schwerwiegenden Abrechnung nahe.

1; S. 184; Hervorhebungen H.B.] Schauen wir uns jetzt einmal die Art der Strafen bei Korczak etwas näher an:

Es gibt keine Strafen - ich mache dem Kind nur klar, dass es böse gehandelt hat. [1; S. 183] Es gibt also keine Strafen, sondern nur Tadel, Ermahnung und Zureden. Aber wenn sich darin der Willen zur Herabsetzung verbirgt, .... [1; S.185] Manchmal legt ein Kuss schwerere Fesseln auf als die Zuchtrute. Hast du nicht bemerkt, dass man zu einem Kind, wenn es Besserung versprochen hat und es trotzdem etwas anstellt, sehr feinfühlig sein muss? Sonst folgt dem ersten das zweite oder gar das dritte Vergehen nach. [1; S. 186]

Zärtlichkeiten, Appelle an das Gefühl, ... sind in diesem Sinne keine Erziehungsmittel. In mehreren Beispielen zeigt Korczak, das Kollektivstrafen immer dazu neigen, Unschuldige mit zu treffen. Das einzig erlaubte Erziehungsmittel ist deshalb, sich in die Lage des Kindes hinein zu versetzen, den engen Rahmen von Schuld und Sühne aufzubrechen. Denn, wer Unrecht getan hat, kann dies erkennen und beim nächsten Mal aktiv dagegen angehen.

3.2. Situationen voraussehen und Kinder darauf einstellen:

Korczak bereitete seine Kinder auf neue, vielleicht auch angstauslösende Situationen vor, in dem er ihnen Geschichten erzählte. In diesen Geschichten wurde thematisiert, was passieren könnte und wie man sich dann richtig verhält.

Der Amerikaner Milton H. Erickson ging bei seinen Therapien häufig ganz ähnlich vor. Seine geschichten enthalten das Problem in einer verschlüsselten Form, ein mögliches, erwünschtes Verhalten wird beschrieben. Oft enden die Geschichten mit einer offenen Frage, die seine Klienten von der Aufmerksamkeit auf das Problem ablenkten und auf einen Lösungshorizont verschoben.

Als die Kinder schlafen gingen .... erzählte ich von: .... Einer erwies sich als sehr lieber Kerl, der zweite war immer und mit allem unzufrieden, der dritte hatte sich in den Wochen sehr gebessert, dem vierten passierte etwas sehr Peinliches .... Also nahmen sie ihn in ihren Schutz. Wo mögen diese vier jetzt sein und woran denken sie wohl?

[1; S.260]

Kluge & Schnell [6] verweisen hier auf Gordons Elterntraining: Eltern lernen, wie Kinder auf zukünftige, unbekannte Situationen vorbereitet werden. Kounin und Doyle [in 6] geben als Handlungsstrategie zur Lösung von Störungen des Arbeitsverhaltens folgende Schritte an:

  1. Den Kindern/Schülern das Ziel der Aufgabe genau mitteilen.
  2. Ihnen erklären, wo sie anfangen sollen und wie die einzelnen Teilschritte zum Ziel führen.

Literaturhinweise:

[1] Korczak, J. (1989, 9. Auflage): "Wie man ein Kind lieben soll" Göttingen
[2] Fatzer, G. (1987) : "Ganzheitliches Lernen - Humanistische Pädagogik und Organisationsentwicklung" Paderborn
[3] Rogers, C. (1976): "Entwicklung der Persönlichkeit" Stuttgart
[4] Schlegel, L. (1988): "Die Transaktionsanalyse" Tübingen
[5] Watzlawik u.a. (1969): "Menschliche Kommunikation" Bern
[6] Kluge u.a. (1981): "Eine kindgerechte Umwelt schaffen" München
[7] Grinder, M (1989): "Righting the educational conveyor belt" Portland. (dt. NLP für Lehrer)
[8] Watzlawik u.a. (1974): Lösungen - Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels" Bern

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  • Quellen
  • Caselmann:
    Wesensformen
  • Bollnow:
    Tugend d. E.
  • Spranger: geb.
    Erzieher
  • Winkel: Lehrer-
    persönlichkeit
  • Combe: Kritik
    der Lehrerrolle
  • Geissler:
    Lehrerrolle
  • Professionalität
  • Giesecke: Ende
    d. Erziehung
  • Thalman: Schul-
    alltag bestehen
  • Registerkarte 11

Quellen zu: Der Lehrer als Erzieher

1. Quelle :Johann Amos COMENIUS (1592 - 1670)

Pampaedia (hrsg. und übers. v. J. Tschizewskis, Heidelberg 1960, S. 171) :
„Auf drei Voraussetzungen muß man bei der Wahl des wahren Lehrers des Ganzen sorgfältig achten :

  1. Jeder soll so sein, wie seine Schüler werden sollen.
  2. Er soll die Kunst beherrschen, sie so machen zu können, und
  3. soll er eifrig am Werke sein.“

....

Zur Erläuterung der ersten Voraussetzung heißt es : „Diese Menschenbildner (formatores hominum) sollen also besonders erlesene (selectissimi) Menschen sein... Wie sie wünschen wir uns das Volk der Endzeit : erleuchtet, friedvoll, gläubig, heilig...“

Zur Erläuterung der zweiten Voraussetzung heißt es : „Um erfolgreich wirken zu können, müssen diese Lehrer

  1. Alle Aufgaben und Ziele ihres Berufes (vocatio) kennen,
  2. alle Mittel die dazu nötig sind, und
  3. die ganze Mannigfaltigkeit der Methoden (methodi).“

2. Quelle: Wilhelm DILTHEY (1833 - 1911):

Grundlinien eines Systems der Pädagogik, Leipzig 1934, S. 201 f.

  • „Wir verstehen einen Menschen nur, indem wir mit ihm fühlen...; wir verstehen nur durch die Liebe. Und gerade einem unentwickelten Leben müssen wir uns annähern durch die Kunst der Liebe... Alles Raisonnement tritt nur als sekundär hinzu.“
  • „Es ergibt sich also ein zweiter Grundzug, welchen mit dem ersten eng zusammenhängt, daß eine ungebrochene Naivität im Grunde der Seele den Erzieher dem Kinde annähert.“
  • „...bemerkt man bei dem pädagogischen Genie ein Sinnen über Seelenleben, das so lebendig, so voll Realitätssinn ist...“
  • „Ebenso ursprünglich ist im pädagogischen Genius grübelnde Empfindsamkeit in Bezug auf die Gestaltung der Seele, auf Mitteilung, auf Methode auf Unterricht.“
  • „Der Genius ist selten, wie überall, so in der Erziehung.“
  • „Auch untergeordnete Köpfe können an der Durchbildung... mitarbeiten; der tüchtige, herzliche, kinderliebe treue Mensch kann... mithelfen, mittun.“

 

3. Quelle: Georg KERSCHENSTEINER (1854 - 1932):

Die Seele des Erziehers und das Problem der Lehrerbildung, Berlin, 1930, S. 48 f.

  • „Der Erzieher ist eine im geistigen Dienste der Gemeinschaft stehende Lebensform des sozialen Grundtypus, der aus reiner Neigung zum werdenden, unmündigen Menschen als einem eigenartigen Träger zeitloser Werte, dessen seelische Gestaltung nach Maßgabe seiner besonderen Bildsamkeit in dauernder Bestimmtheit zu beeinflussen imstande ist und in der Bestätigung dieser Neigung ihre höchste Befriedigung findet.“

4. Quelle: Klaus W. DÖRING:

Lehrerverhalten und Lehrerberuf. Zur Professionalisierung erzieherischen Verhaltens, Weinheim, 1970, S. 10

  • „Der ‘privatistischen’ Interpretation von Erzieherverhalten oder ‘Erziehungsstil’ im Sinne einer an der Lehrerindividualität sich einseitig orientierenden Erziehungspraxis wird eine intrumentalistische entgegengesetzt, die sich an der Zweck - Mittel - Korrelation orientiert und Erziehungsverhalten mehr im Sinne von Erziehungstechnik verstanden wissen will. Dahinter steht das Berufsbild eines Lehrers, der sich als Erziehungsspezialist begreift, welcher spezielle Aufgaben mit Hilfe eines differenzierten Instrumentariums pädagogischer Hilfsmittel möglichst optimal zu lösen hat.“

Arbeitsaufgaben:

  1. Arbeiten Sie innerhalb ihrer Gruppen heraus, welche Vorstellungen die einzelnen Autoren jeweils von der Lehrerpersönlichkeit haben. Bearbeiten Sie dazu nach Absprache zwischen den Gruppen jeweils zwei Texte pro Gruppe und zwar: Nach Wahl eine der Quellen 1, 2, oder 3 und dazu obligatorisch die Quelle 4.
  2. Überlegen Sie, welche Vorstellungen von Lehrerpersönlichkeit Sie nach Ihrem eigenen Verständnis einer Erzieherpersönlichkeit bei den vorgezeigten Quellen mittragen könnten und welche nicht.
    Begründen Sie Ihre Auswahl.
  3. Belegen Sie Ihre nach Arbeitsaufgabe 2 getroffene Auswahl durch Beispiele aus Ihrer Praxis.

Christian Caselmann: Wesensformen des Lehrers - Versuch einer Typenlehre

Die Typenmerkmale

Alles Lehrertum, so sagten wir, hat eine sachliche und eine persönliche Seite. Der Lehrer muß sich einmal innerlich seinem Bildungsideal , dem Lehrziel und dem Lehrinhalt verpflichtet fühlen. Er muß diese Dinge nicht nur äußerlich beherrschen, er muß in ihnen geistig und seelisch verwurzelt sein, muß sich verwachsen fühlen mit seinem Lehrstoff, muß befähigt sein für seine Mission, diese Kulturinhalte der jungen Generation nahezubringen, daß auch sie diese Werte ergreife und von ihnen ergriffen wird. Sehr viele Lehrer schlagen die Lehrerlaufbahn ein, weil sie schon als werdende junge Menschen innerlich von den Werten der Kultur begeistert sind, weil sie lebenslang mit diesen Dingen umgehen wollen. Die Mehrzahl der Lehrer an den höheren Schulen wird zu dieser Gruppe gehören, aber auch ein großer Prozentsatz der Volksschullehrer zählt zu ihr. Wie viele Bauern- und Handwerkersöhne, die hervorragende Lehrergestalten geworden sind, haben diesen Beruf ergriffen oder sind von ihren Lehrern dazu ausgesucht und bestimmt worden, nur weil sie als Schulbuben eine besondere Fähigkeit und ein den Durchschnitt überragendes Interesse an den Gegenständen des Unterrichts zeigten!
Wissens- und Wissenschaftsdrang zeichnet diese jungen Menschen vor anderen aus. Wir nennen diese Typengruppe logotrop, d.h. der Wissenschaft, der Kultur zugewendet. Den logotropen Lehrern geht es in erster Linie um Bildungsideal und Bildungsziel, um positives Wissen und Können , um den Lehrstoff, um die Weckung der Begeisterung bei der Jugend für die Kulturwerte. Bei aller Unterrichts- und Erziehertätigkeit liegt für sie das Schwergewicht, der Hauptakzent, auf den objektiven Werten, an denen die jungen Menschen sich emporbilden sollen. Diese Kulturwerte sind also Ausgangspunkt und Zielpunkt ihres Lehrertums.
Bei genauerem Zusehen zerfällt die Gruppe der Logotropen in zwei  Untergruppen:  in die philosophisch  Interessierten und in die fachwissenschaftlich Interessierten.
Für die philosophisch Interessierten ist die von ihnen ergriffene Wissenschaft in erster Linie Baumaterial für die eigene Lebens- und Weltanschauung. Es geht ihnen schließlich immer um die letzten Wahrheiten, um Gott und Welt, um Sein und Schein , um Gesetz und Freiheit, um Ich und Gemeinschaft.  An diese Fragen wollen sie auch letztlich ihre Schüler heranführen, und wenn sie das nicht können wegen des noch zu unreifen Alters der Schüler, dann ist doch ihr ganzer Unterricht aus philosophischen Grundüberzeugungen gespeist und von ihnen durchwaltet. ...
Ihr Unterricht wird sich stets durch eine gewisse wohltätige Geschlossenheit auszeichnen und daher oft große Wirkung haben.
Beispiele (siehe Vorwort) mögen das veranschaulichen.

„Seine Gesichtszüge sind fast dauernd straff angespannt, als ob er immerzu denke oder grüble. Die griechische Philosophie hat es ihm angetan, und sie beschäftigt ihn auf Schritt und Tritt. Immer wieder setzt er sich mit ihr und der christlichen Ethik auseinander, und es ist schwer zu entscheiden, welche der beiden Denkarten ihn mehr zu dem gemacht hat, was er ist. Wie von sich verlangt er auch von seinen Schülern unbedingte Selbstzucht. Das fängt schon beim Lesen des lateinischen oder griechischen Textes an. Auch nicht ein unbedeutend scheinendes Wörtchen darf beim Übersetzen außer acht gelassen werden. ‘Es ist eine Frage der Ehrfurcht’, pflegt er dabei zu sagen. So will er Grundlagen schaffen, auf denen später weitergebaut werden kann.“

In ihrem Fach möchten sie bis an die Grenzen des Wissens schreiten, alles ist ihnen wichtig und interessant. Sie imponieren als Lehrer der Jugend durch ihr Können und Wissen und reißen sie durch ihre Begeisterung für die Gegenstände des Unterrichts mit fort. Wenn sie auch nicht so ins Grundsätzlich-Philosophische gehen und nicht so in die Tiefe graben, so lernt man doch bei ihnen viel und leicht; sie erzielen daher erstaunliche Unterrichtserfolge. Wie von den philosophisch Interessierten geht auch von ihnen eine Begeisterung für die von ihnen vertretenen Fächern aus. Sie haben keinen so unmittelbaren persönlichen erzieherischen Einfluß; aber ihre unterrichtliche Wirkung ist vielleicht dafür größer, und indirekt wirken sie so durch die den Stoffen innewohnenden Bildungselemente doch auch in nicht geringem Maß erzieherisch. Man findet bei ihnen nicht nur überwiegend Naturwissenschaftler, sondern auch Geographen, Historiker und Neussprachler. Wirkten die philosophisch Interessierten durch ihre Geschlossenheit, so fesseln die fachlich Interessierten durch die Vielseitigkeit. Sie, die in der ganzen Weite ihres Faches zu Hause sind, zeigen immer wieder neue, unbekannte Seiten, beleuchten ihren Gegenstand von den verschiedensten Punkten. Sie sind im allgemeinen der Außenwelt mehr zugewendet als die philosophisch Interessierten.
Sie verlassen sich daher nicht nur auf die magnetisch wirkende Kraft ihres Stoffes, sondern werben für ihn; so sind sie oft auch von ihrem Stoff her methodisch interessiert. Sie machen mit ihren Schülern Schulausflüge, opfern für Arbeitsgemeinschaften, Besuche von Museen, Galerien und dergleichen ihre freie Zeit, sie ziehen einzelne Schüler oder Schülergruppen zur Mitarbeit in Laboratorien und auf wissenschaftlichen Exkursionen (beim Botanisieren, Raupen-, Käfersammeln und dergl.) heran; sie helfen ihnen Herbarien oder andere Sammlungen anlegen, nehmen sie auf Spaziergänge mit und lehren sie die Vogelstimmen und Pflanzen kennen. Das alles tun sie aber nicht so sehr aus Liebe zur Jugend wie aus der Erfülltheit und Begeisterung für ihre Sache. Ihr großes Wissen und ihr Aufgehen in ihrem Fach imponiert der Jugend  und reißt sie mit.
Dem logotropen Flügel, der die sachliche Seite des Lehrertums vertritt, steht nun der paidotrope Flügel, der das persönliche Element darstellt, gegenüber. Paidotrop, d.h. dem Kinde zugewandt, sind diejenigen Lehrer, die in erster Linie nicht an den Stoff, sondern an das Kind denken. Von vornherein, anlagemäßig, lockte sie weniger die Wissenschaft als die Tätigkeit des Erziehens und Unterrichtens. Der Umgang mit jungen Menschen ist ihnen ebenso Herzensbedürfnis wie den Logotropen die Beschäftigung mit der Wissenschaft. In ihnen ist nicht der wissenschaftliche, sondern der eigentlich pädagogische Eros lebendig. Während die logotropen Lehrer sich für unterrichtliche Fragen, sei es, daß es sich um die Stoffauswahl oder um methodische Probleme handelt, immer vorzugsweise unter dem Gesichtspunkt des Stoffes interessieren, kommen die paidotropen Lehrer an all diese Unterrichtsfragen vom Blickwinkel des Kindes aus heran. Die Logotropen wollen in erster Linie in der Schule unterrichten, den Paidotropen ist es vor allem um Erziehung zu tun. Wenn bei den Paidotropen wissenschaftliches Interesse lebendig wird, wendet es sich in erster Linie jugendpsychologischen Fragen zu.
Auch bei den Paidotropen finden wir zwei Untergruppen: die individuell-psychologisch Interessierten und die generell-psychologisch Interessierten.
Die erste Gruppe, die der individuell-psychologisch Interessierten, wendet sich in erster Linie dem einzelnen Schüler zu. Diese Lehrer wollen jeden Schüler möglichst genau kennen und verstehen lernen. Sie bemühen sich, jeden Schüler mit all seinen Fehlern und Schwächen liebend zu umfassen, seiner Individualität gerecht zu werden, sein persönliches Vertrauen zu gewinnen und so den erzieherischen Ansatzpunkt zu finden, der die Voraussetzung für die unterrichtliche Arbeit und ihren Erfolg ist.
„Es war nicht so sehr ihr Unterricht, der uns fesselte, als ihre Persönlichkeit. In ihrer Art lag das Mütterliche. Jedes konnte mit ihr sprechen, sie hatte Zeit für jedes. Ihre Ratschläge kamen immer aus dem Herzen. Sie nahm uns als Menschen, jeden nach seiner Eigenart und Veranlagung. Sie sprach selten vor den andern etwas, das Bezug auf unser persönliches Leben und unsere Zukunft hatte, aber trotzdem spürten wir ihre Anteilnahme und ihre Verbundenheit mit uns. Sie hat manchem über eine schwere Krise hinweggeholfen einfach dadurch, daß sie es in seiner Art zu verstehen suchte.“

Caselmann, C. (1964): Wesensformen des Lehrers -
Versuch einer Typenlehre. Stuttgart, 3.Aufl. 1964

 

Arbeitsauftrag:

  1. Fassen Sie die Vorstellungen Caselmanns von den Wesensformen des Lehrers, wie sie in diesem Textauszug sichtbar werden, zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch.
  2. Finden Sie sich selbst oder andere Pädagogen, die Sie (vielleicht aus Ihrer Schulzeit oder Ihrem derzeitigen Kollegium) kennen, zutreffend in ihrer Wesensform durch Caselmann beschrieben?
  3. Typisierungen, wie die Caselmanns, lassen einen schnell an „Schubladen“ denken; doch obwohl Caselmanns Darlegungen schon recht lange zurückliegen, können wir doch noch heute bestimmte (moderner gewandete) Archetypen wiedererkennen. Haben „Schubladen“ doch etwas für sich?

Otto Friedrich Bollnow: Über die Tugend des Erziehers

Über die Tugenden des Erziehers zu sprechen ist heute ein gewagtes Unternehmen. Man setzt sich dabei dem Verdacht aus, vor einer nüchternen wissenschaftlichen Behandlung des Erziehungsvorgangs in eine billige moralisierende Betrachtungsweise zurückzuweichen, die wir durch die Ausbildung einer empirischen Erziehungswissenschaft endlich überwunden zu haben glaubten. Schon das bloße Wort „Tugend“ ist heute nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch verdächtig geworden. Es klingt nach einer ängstlichen Anpassung an die Forderungen der herrschenden Moral, nach der Haltung eines bloßen Musterschülers; der sich nicht aufzulehnen wagt und sich widerspruchlos allen Anforderungen seiner Umwelt fügt. Tugendhaftigkeit scheint mehr in einem Verzicht als in der Äußerung eines kraftvoll sich entfaltenden Lebens zu liegen. War noch vor 100 Jahren die Tugendhaftigkeit die Auszeichnung eines wohlgeratenen jungen Menschen, so wird sich die heutige Jugend nicht gerne als tugendhaft bezeichnen lassen. Von einem tugendhaften Lehrer oder Erzieher zu sprechen ist heute nahezu unmöglich. Es würde gleich die Vorstellung von Untertanengeist und mangelnder Zuvilcourage erwecken.
Und dennoch darf man bei aller wissenschaftlichen Behandlung des Erziehungs- und Unterrichtsvorgangs nicht vergessen, dass es letztendlich der Mensch ist, die in ihrer vollen Menschlichkeit überzeugende Persönlichkeit, die im Kind erst die Erziehungsbereitschaft hervorruft und ohne die alle Erziehungsbemühungen wirkungslos bliebe …
Ich möchte nun drei Tugenden herausgreifen, die mir beim Erzieher für das Gelingen seiner Bemühungen besonders wichtig zu sein scheinen: die erzieherische Liebe, die Geduld und das Vertrauen.

I.
Die erste erzieherische Tugend ist die Liebe. Sie allein gibt dem auf die Veränderung der seelischen Struktur des zu Erziehenden gerichteten Tun einen warmen menschlichen Ton und macht überhaupt erst den Eingriff in die Persönlichkeit des Kindes, so sehr dieser sachlich berechtigt und gefordert sein mag, für das Kind erträglich. Aber mit dem Wort Liebe ist zu wenig gesagt. Es ist eine Liebe besonderer Art, die wir in ihrer Besonderheit erfassen müssen.

a.)   Man hat seit alters her gern von einem pädagogischen Eros gesprochen und damit auf die tiefsinnige Liebe Platons verwiesen: die Liebe zur schönen Seele im schönen Leib des Knaben, die sich dann zur Liebe zum Schönen überhaupt erhebt. Und sicher ist damit, wenn wir von der Besonderheit der griechischen Knabenliebe absehen, etwas Wesentliches getroffen: der eigentümlich ästhetische, frohgemute, ich möchte sagen: frühlingshafte Zug in der erzieherischen Zuwendung. Wir freuen uns an dieser Freude des Erziehers an seinem Tun. Viele sind erst dadurch zu Erziehern geworden.
Trotzdem liegt in dieser Erotisierung der Erziehung, auch wenn sie noch so vergeistigt verstanden wird, eine Gefahr. Auf jeden Fall trifft sie nicht den Kern des erzieherischen Verhältnisses, und es ist wichtig, sich den Unterschied  klar zu machen. Max Scheler hat in seinem Buch „Wesen und Form der Sympathie“ in überzeugender Weise herausgearbeitet, wie die Liebe nicht etwa blind macht, wie eine verbreitete Redensart sagt, sondern im Gegenteil die Augen öffnet für die in einem Menschen vorhandene Wertqualitäten. Die Liebe ist bewundernd, aufschauend, nicht umsonst spricht man in der Umgangssprache von einer Angebeteten und einem Anbeter. Auf jeden Fall: der Liebende liebt den Menschen so, wie er ist, in der ihm erscheinenden Vollkommenheit. Er kann  gar nicht auf den Gedanken kommen, an dem geliebten andern Menschen etwas verändern zu wollen. Zusammengefasst. die erotisch verstandene Liebe schließt die Absicht, etwas verändern zu wollen, und damit die pädagogische Absicht aus, und wo sie auftritt, wird sie vom Geliebten als Verrat empfunden. Das gilt auch vom Verhalten zum Kind. Die ästhetisch geprägte Liebe freut sich an der Vollkommenheit des Kindes, und zwar gerade so, wie es jetzt ist, in diesem Stadium seiner Entwicklung. Sie kann höchstens nur mit Wehmut daran denken, wie bald die Entwicklung darüber hinausgeht und die jetzige Schönheit wieder zerstört. Sie fragt vielleicht in tiefer Resignation, warum aus so glücklichen, schönen Kindern so abscheuliche Erwachsene werden.
Noch einmal: die erotische Liebe nimmt den Menschen so, wie er ist. Fehler an ihm erkennen zu müssen, ist schmerzlich, und solche Fehler verbessern zu wollen, also erziehen zu wollen, ist Versündigung am Geist der Liebe. Ein Erziehungsversuch zerstört die Liebe, der er doch in guter Absicht dienen wollte, und diese Wirkung ist oft nicht wieder rückgängig zu machen. Das ist vielleicht eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die der liebende Mensch machen kann.

b.) Aber nicht alle Liebe ist Eros. Es gibt noch eine ganz andere Liebe, nämlich die sich hinabneigende Liebe zum notleidenden und geschundenen andern Menschen, die in Ehrfurcht vor dem Leiden hinabsehende Liebe, die aus dem Mitleid und sich im Willen zur Hilfe zur Linderung der Not auswirkt. Während die erste Form dem antiken Kulturkreis entsprungen ist, gehört die zweite der christlichen Überlieferung an. Es ist die agape, die caritas.  Auch sie hat sich als wesentlicher Faktor in der Erziehung ausgewirkt, als besondere Hinwendung zu den Armen und Unterdrückten, zu den geistig und körperlich Behinderten. Pestalozzi mag mit seiner Armenerziehung als großes Beispiel dastehen. Mönchsorden und Kongregationen haben schon im Mittelalter Bewunderswertes  geschaffen, und in der heutigen Sozialpädagogik ist sie wieder lebendig. Man könnte mit einigem Recht den unter deprimierenden Bedingungen arbeitenden Sonderschullehrer als Heiligen unserer Tage bezeichnen. Der Pädagoge fühlt sich in innerster Seele den vom Leben Benachteiligten verbunden und empfindet in sich Streben, die Ungerechtigkeit ihres Schicksals, soweit es in seinen Kräften steht, auszugleichen.

c.) Und trotzdem ist die aus der caritas entsprungene Hilfe noch kein eigentlich erzieherisches Verhalten. Sie will dem anderen Menschen in seiner Not beistehen, indem sie seine Umstände verändert. Ihn selbst aber will sie nicht verändern (oder höchstens so weit, dass er imstande ist, sich mit seinen widrigen Umständen besser abzufinden). Erziehung aber will den Menschen verändern. Wenn man auch die Erziehung eigentlich nicht ganz unverständlich als Lebenshilfe bezeichnet hat, so ist das doch eine Hilfe ganz besonderer Art, nämlich eine solche, die nie die Umstände, sondern den Menschen selbst betrifft. Die erzieherische Hilfe will, ganz banal ausgedrückt,  dem Kind oder allgemein ausgedrückt, dem anderen Menschen helfen, eine neue Stufe seiner Entwicklung zu erreichen. Insofern ist auch die richtig verstandene Psychotherapie nicht nur Herstellung, d.h. Wiederherstellung eines durch Krankheit verloren gegangenen gesunden Zustandes, sondern zugleich Erziehung, d.h. Hilfe bei der Erreichung eines neuen Reifezustandes. Es wäre wohl an der Zeit das Verhältnis von Pädagogik und Psychotherapie einmal grundsätzlich zu durchdenken. Im Sinne der Rechtfertigung auf die  zu erreichenden Stufen hat Spranger immer wieder die erzieherische Haltung beschrieben. Der Erzieher sieht im Kind die in ihm angelegten Wertmöglichkeiten nicht, wie bei Scheler, die schon vorhandenen Werte, sondern die noch schlummernden Wertmöglichkeiten, und diesen will er durch sein Tun zur Entfaltung helfen.
Und trotzdem ist diese Bestimmung ein wenig zu schön. Sie übersieht die leidvollen Erfahrungen, die jeder Erzieher macht: dass es im Kinde nicht nur die idealen Möglichkeiten gibt, die es zu entfalten gilt, sondern auch die Bosheit und die Schwäche, die die Entwicklung behindern und verkehren. Der Erzieher – und mit ihm die pädagogische Theorie – darf hierfür nicht blind sein. Er muss mit seiner Liebe und seinem Blick für die schlummernden idealen Möglichkeiten zugleich das Kind ganz realistisch sehen: mit all seinen Schwächen und Gebrechen, die all seine Erziehung immer wieder in Frage stellen. Mein verehrter Lehrer Herman Nohl hat immer wieder betont,  dass erst die Verbindung von idealistischem und realistischem Blick das Wesen des erzieherischen Verhältnisses ausmacht. Und diese Doppelheit bestimmt auch das Wesen der erzieherischen Liebe, in der mehr Komponenten vereinigt sind: die naive Liebe zum Kind, besonders zum kleinen Kind in seiner rührenden Hilflosigkeit, die eine aufbauende Arbeit anregende Liebe zu dem im Kind schlummernde Möglichkeiten und die teilnehmende geduldige Liebe ( ich will nicht sagen zu seinen Schwächen, aber) in all seinen Schwächen.
Aber pädagogisch ist sie nur, wenn sie kein weichliches Nachgeben gegenüber den leider nun einmal vorhandenen Schwächen ist, sondern bei aller Nachsicht den erzieherischen Anspruch unbeirrt aufrecht erhält, wenn sie in aller Milde zugleich streng ist und nur in dieser Strenge das Kind wirklich ernst nimmt. Sie bewegt sich also in der schwer zu gewinnenden Mitte zwischen verständnisvoller Nachsicht und sittlicher Forderung. Weil diese Mitte aber schwer einzuhalten ist, weil sie vom Erzieher die Zurückhaltung seines unmittelbaren Formungswillens fordert, darum ist diese Liebe nicht einfach Naturanlage eines „geborenen Erziehers“, sondern wie Spranger es in eindringlicher Warnung vor diesem irreführenden Begriff hervorgehoben hat, eine Tugend, die erst in strenger Selbsterziehung in immer neu geübter Geduld und Zurückhaltung erworben werden muss. „Der Erzieher“, sagt Spranger: „wird geboren aus Selbsterziehung“.

2.
Damit sind wir unversehens zu der zweiten großen Erziehertugend gekommen, der Geduld. Zwar ist die Geduld eine allgemein von Menschen geforderte Tugend und nicht auf den Erzieher beschränkt, aber sie betrifft den Erzieher in einer ganz besonderen Weise. Aber ehe wir auf das besondere Problem der vom Erzieher geforderten Geduld eingehen, ist es zweckmäßig, einige allgemeine Erwägungen über das Wesen der geduld vorauszuschicken und etwas nachholen, was ich in früheren Arbeiten nicht voll genug gesagt habe. Die Geduld betrifft auf der einen Seite das Verhältnis des Menschen zur Zeit. Sie ist die Kunst des Abwarten-Könnens. Sie ist darum so schwer zu erlernen, weil der Mensch die natürliche Neigung hat, den Ereignissen, insbesondere den erfreulichen, in Gedanken vorauszueilen, ihr eintreten nicht abwarten zu können. Er verzehrt sich dann in seiner Ungeduld und Vernachlässigt die Forderungen des Augenblicks. Die Geduld ist demgegenüber die Fähigkeit des Warten-Könnens, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, als die Fähigkeit, die natürliche Ungeduld zu beherrschen. Darin kommt der eigentliche Tugend-Charakter zum Ausdruck: Im Unterschied zu anderen, sich von innen heraus entwickelnden, sozusagen natürlichen Tugenden wie Mut, Tapferkeit usw. muss die Geduld erst durch Selbstdisziplin der natürlichen Neigung abgewonnen werden.

Darin kommt zugleich die andere Seite der Geduld zum Ausdruck. Geduld hängt sprachlich mit dulden zusammen (wenn das Wort auch nicht aus dem Verbum abgeleitet ist, sondern das Verbum erst aus dem Substantiv Geduld). Man spricht von einem in Geduld ertragenden Leiden , Geduld bezeichnet das freiwillige Hinnehmen von Widerwärtigkeiten, das Erleiden also das Sicheinfügen in das Unvermeidbare mit all seiner Bitterkeit. Es ist eine Tugend der Passivität. Aber auch diese Seite der Geduld fasst sich unter einem bestimmten zeitlichen Aspekt. Geduldig ist noch nicht das Hinnehmen eines Schicksalsschlags, einer Niederlage oder eines schweren Verlusts, sondern geduldig ist der Mensch erst in der Dauerbelastung, etwa eine lang währende Krankheit. Den Schicksalsschlag nimmt man hin und setzt sich mit ihm ehrlich auseinander, und damit ist die Angelegenheit abgetan. Geduld aber übt man bei einer lang andauernden Belastung. Sie ist so schwer zu erlernen, weil man sie immer neu aufbringen muss.

Vor diesem doppelten Hintergrund muss man aber auch die Geduld des Erziehers sehen. Sie ist auf der einen Seite die Kunst des Wartens-Könnens und in sofern die Geduld des Gärtners oder des Landmannes, die das Wachstum von sich aus nicht beschleunigen können,  sonder warten müssen, bis die Ernte reif geworden ist. Das gilt auch für den Erzieher, soweit man sein Geschäft als ein Wachsen-lassen betrachten kann. Aber gerade weil der Erzieher die schlummernden Möglichkeiten im Kinde sieht, hat er das natürliche Verlangen, sie auch verwirklicht zu sehen und die Entwicklung so schnell wie möglich voranzutreiben. Die Mutter freut sich über alles, was ihr Kind „schon kann“, und ist geneigt, in ihrer Freude darin gleich ein Wunderkind zu sehen. Der Lehrer  freut sich an den Lernfortschritten seiner Klasse und wird ungeduldig, wenn sich einige Nachzügler melden, die etwas immer noch nicht verstanden haben. Daher die Tendenz zur Verfrühung als die spezifische Gefahr der Pädagogik. Und demgegenüber bedeutet die Geduld die Disziplinierung des natürlichen Strebens, der Zeit vorauseilen zu wollen, das richtige Sich-einfügen in den natürlichen Lauf der Zeit. (Wenn ich also von einem Sich-einfügen spreche, so ist damit zugleich gesagt, dass man nicht nur vorauseilen, sondern auch nicht hinter dem, „was in der Zeit ist“, aus schuld oder Schwäche zurückbleiben darf. Geduld ist also alles andere als bloße Nachlässigkeit).

Aber wenn man sagt, dass der Erzieher mit seinen Kindern Geduld haben muss, so hat das noch einen anderen Sinn- Er muss Geduld haben mit ihren Schwächen, Geduld mit ihren Unarten und Bosheiten, geduld vor allem, wenn sie immer wieder rückfällig werden, auch wenn sie mit ehrlichem Herzen Besserung versprochen haben. Geduld fordert das Vorgehen können und die Kraft zu einem neuen Anfang. Und wenn man im Evangelium auf die Frage, ob es genüge, sieben mal zu vergeben, die Antwort gegeben wird: nein, sondern sieben mal siebzig- mal, ist damit die schwere Aufgabe des Erziehers bezeichnet : immer wieder verzeihen und verstehen müssen, um nach allen Enttäuschungen mit neuem Vertrauen wieder anfangen zu können. Das geht oft an die Grenzen des Menschenmöglichen, und das kann der Erzieher nur leisten, wenn  er über alle Rückschläge hinaus das feste Vertrauen hat, dass auf die Dauer seine geduldige Arbeit nicht vergebens ist.

3.
Damit sind wir bei der dritten Grundtugend des Erziehers: dem Vertrauen. Es ist heute allgemein bekannt, wie wichtig es für ein Kind und besonders für ein kleines Kind ist, dass es in einer Welt aufwächst, in der es sich geborgen fühlt, insbesondere dass es sich mit einem bestimmten anderen Menschen verbunden fühlt, der ihm diese Geborgenheit vermittelt, weil es zu ihm ein uneingeschränktes Vertrauen hat. In der Regel ist es im ersten Lebensjahr bekanntlich die Mutter. Ich kann mich nicht enthalten, hier das Wort des mir befreundeten, allzu früh verstorbenen Kinderarztes Alfred Nitschke anzuführen. „Die Mutter“ so schreibt er in seinem schönen Buch über den Menschen als „das verwaiste Kind der Natur“, auf das ich noch einmal nachdrücklich hinweisen möchte. „Die Mutter schafft mit ihrer sorgenden Liebe für das Kind den Raum des Vertrauenswürdigen, Verlässlichen, Klaren. Was in ihm einbezogen ist, wird zugehörig, sinnvoll, lebendig, vertraut, nahe und zugänglich. Daher stammen die Kräfte der Einsicht, die dem Kind den Zugang zur Welt, zu den Menschen und zu den Dingen ermöglichen“. Also: auch das Verständnis der Welt im Ganzen wird dem Kind erst durch den Bezug zu einem bestimmten einzelnen Menschen vermittelt. Daher ist der ungeheure Schaden, der entsteht, wenn ein solcher vertrauenswürdiger Mensch nicht vorhanden ist. Das ist heute bekannt und durch die Untersuchungen von Spitz vielfach bestätigt.

Sehr viel weniger wird die Wichtigkeit des in entgegen gesetzter Richtung verlaufenden Vertrauens beachtet, des von seiner Umgebung, insbesondere seinem Erzieher, dem Kind entgegengebrachte Vertrauens, des Vertrauens also, das nicht das Kind seiner Umgebung entgegenbringt, sondern das ihm von seiner Umgebung entgegengebracht wird. Und trotzdem gilt auch hier, dass das Kind ohne ein solches ihm von der Umgebung entgegengebrachten Vertrauens sich nicht richtig entwickeln kann und darum durch den Entzug dieses Vertrauens in seiner Entwicklung schwer geschädigt wird.

Das wird vielleicht am durchsichtigsten im Falle des Versprechens. Ich kann einem anderen Menschen nur etwas versprechen, wenn dieser andere Mensch auch bereit ist, mein Versprechen anzunehmen, und das heißt, dass dieser auch davon überzeugt ist, dass ich meine Versprechen halten kann und halten werde. Verweigert er die Annahme des Versprechens, erklärt er etwa skeptisch oder spöttisch überlegen, dass ich es doch nicht halten werde, weil es mir dazu an Kraft oder gutem Wille fehlt, so entzieht er mir dadurch die Kraft, dies Versprechen zu halten, und bringt gerade das hervor, was er befürchtet hatte. Es gibt keine Treue in den leeren Raum. (Dagegen darf man nicht einwenden, dass es auch Versprechen gibt, die man sich selbst gibt. Das ist ein sehr nachlässiger Sprachgebrauch. Sich selbst gegebene versprechen gibt es nicht. Das sind höchstens gute Vorsätze. Und das ist etwas ganz anderes. Versprechen kann man nur einem anderen geben. Sie bleiben immer vom Vertrauen anderer abhängig. Das ist für die Erziehung von allergrößter Bedeutung. Nur wo ich dem Kind etwas zutraue, traut es auch sich selbst etwas zu ….)

Das kann man noch etwas allgemeiner fassen:  Das Kind formt sich unbewusst nach dem Bild, dass sich der Erzieher von ihm macht. Es wird wirklich so, wie der Erzieher es von ihm erwartet. Wenn es der Erzieher für ehrlich, ordentlich, fleißig, zuverlässig usw. hält, dann werden eben dadurch die entsprechenden Eigenschaften beim Kinde geweckt. Und umgekehrt, wo der Erzieher im Kinde nur immer das Schlechte argwöhnt, da wird das schlechte durch den Argwohn geradezu hervorgerufen, und das Kind wird wirklich so dumm und faul und verlogen, wie es der Erzieher von ihm erwartet hatte. Das belastet den Erzieher mit einer ungeheuren Verantwortung, denn sein Urteil über das Kind ist nicht seine Privatangelegenheit, sondern wirkt sich unmittelbar auf die kindliche Entwicklung aus …

Das ist für die Erziehung von ungeheurer Bedeutung: Nur wo der Erzieher wirklich an ein Kind glaubt, wo er Vertrauen zu ihm hat, kann sich das Kind entwickeln. Die Frage aber ist: Woher nimmt der Erzieher die Kraft zu diesem Vertrauen? Denn die Wirkung dieses Vertrauens geschieht nicht in der Art eines  zwangsläufigen Naturgesetzes. Sie kann auch ausbleiben, und sie bleibt auch häufig aus. Immer wieder wird der Erzieher enttäuscht. Immer wieder bleibt das Kind hinter den Erwartungen zurück. Immer wieder stößt der Erzieher auf Schwäche und Bosheit. Immer wieder scheitert er bei seinen gut gemeinten versuchen. Das Scheitern gehört wohl wie in keinem anderen Beruf zur Arbeit des Erziehers. Es wäre Feigheit, das nicht sehen zu wollen. Und hier setzt die eigentümliche Schwierigkeit des Erziehers ein: trotz aller bitteren Enttäuschungen, trotz aller so genannten Erfahrungen das Vertrauen wieder aufbringen zu müssen …

Das gelingt ihm nicht aus eigener Kraft auf bloßen Vorsatz hin. Das ist nur möglich, wenn sich der Erzieher seinerseits von einem anderen und tiefen Vertrauen getragen ist, von einem Vertrauen darauf, dass trotz aller Rückschläge  und Misserfolge sein Tun einen Sinn hat. ….

Otto Friedrich Bollnow: Über die Tugend des Erziehers
Lehren und Lernen 1979/ H.7

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Eduard Spranger: Der geborene Erzieher

Gegen die Fassung des Titels dieser Schrift können Bedenken erhoben werden; sie sind im Text berücksichtigt.
Ich glaube, im deutschen Schulleben unserer Tage gewisse Klimaveränderungen zu bemerken , die nach der Seite der Trockenheit hingehen. Aus der Sorge heraus, daß die Austrocknung zu groß werden könnte , habe ich vor zwei Jahren das kleine Heft  „Der Eigengeist der Volksschule“ veröffentlicht. Hier folgt eine zweite Herzensergießung. Sollte es trotz meines hohen Alters noch so weiter gehen, käme vielleicht eine Schriftenreihe zustande, der ich die Sammelbezeichnung geben würde: „Mehr Freude an der Schule!“
Die vorliegende Schrift ist aus einem Vortrag entstanden, den ich im Frühjahr 1956 bei der Entlassungsfeier der Studenten des Pädagogischen Instituts in Weingarten gehalten habe.

Hier soll nur von einem Beruf die Rede sein, der völlig seinen Sinn verliert, wenn er nicht mit der „Leidenschaft des Geistes“ ergriffen wird, nämlich von dem des Erziehers, in den der des Lehrers wesensmäßig miteingeschlossen ist.

Wenn man heute vom „Wehen des Geistes“ redet, gerät man in den Verdacht, aus einer versunkenen Zeit zu stammen, in der man noch mit Pathos etwas ausrichten konnte. Man muß sich daher auf Fälle zurückziehen, in denen es wirklich ohne „Inspiration“ nicht geht. Bei dem schöpferischen Künstler redet man ausdrücklich vom „Genie“. Man bedient sich dann nur des lateinischen Wortes genius für das Besessensein von einem Daimon. Jeder denkt dabei sogleich an das Daimonion, dessen Stimme Sokrates in sich zu hören behauptet hat. Was er damit eigentlich gemeint hat, ist immer noch strittig. Es gibt wirklich sehr verschiedene Geister, die durch Menschen hindurch wirken können. Auch dies wäre ein interessantes Unternehmen, zu studieren, welche Dämonen in unserer Zeit der „Entmythologisierung“ etwa übrig geblieben sind. Später wird sich herausstellen, daß der „Geist der Erziehung“ von dem des künstlerischen Schaffens grundsätzlich verschieden ist. Kein Zweifel aber, daß es auch so etwas gibt, wie pädagogische Genialität.

Es gibt keinen Beruf, zu dem man weniger „geboren“ sein könnte, als den des Erziehers. Denn zu seinem Wesen gehört eine beträchtliche Reife. Wenn es aber eine Art von innerem Vorgeformtsein auch für geistige Leistungen gibt, zu deren Entfaltung ein langer Bildungsweg nötig ist, so kann man wohl in einem übertragenen Sinne vom „geborenen Erzieher“ sprechen. Die Bezeichnung ist dann ein Ausweichen vor dem Fremdwort „der .......... Erzieher“, meint aber das Gleiche, nämlich den Pädagogen von so echter Art, „als ob“ er für das Erziehertum geradezu geboren wäre. Wir sagen ja auch: „der geborene Feldherr“, und doch kann niemand zum Feldherrn, geschweige dann „als Feldherr“ im wörtlichen Sinne geboren werden.

Im Grunde zielt dieses Bemühen auf immer neue Umschmelzungen des Inneren. Man denke an den Knopfgießer in Ibsens „Peer Gynt“! Wo geschmolzen werden soll, ist ein Feuer nötig. Ohne Bild: nur in der Temperatur der Liebe gelingt es, Menschen in ihrem Kern zu beeinflussen. Ihre Wärme durchwaltet das ganze Gemüt und strahlt aus auf die Begegnung von Erzieher und Zögling. Das haben wir oft gelesen, besonders bei Pestalozzi; ebenso bei Kerschensteiner. Aber man glaube nicht, daß mit diesem Zauberwort das letzte Rätsel gelöst sei. Vielmehr fängt nun das Gebiet erst an, auf dem der geborene Erzieher seine Kraft entfalten muß.
Liebe ist ein vieldeutiges Wort. Es gilt, diejenige Art ins Spiel zu setzen, die dem Geist der Erziehung gemäß ist. Es kommt auch darauf an, ihre Temperatur richtig zu temperieren. Darüber gibt es kein Vorschriftenbuch.Vielmehr ist es eben der geborene Erzieher, der hier aus einem tiefen geistigen Instinkt heraus das Richtige trifft. Die anderen mögen ihm zusehen und ihm ein wenig von dieser Kunst ablernen. In Autobiographien finden wir Gestalten von Müttern, die schon die Natur mit einer wunderbaren Liebesfülle ausgestattet hat. Noch lehrreicher aber sind wohl die Bilder von Vätern, deren ernste Lebensführung von einer verhaltenen Liebe durchdrungen ist. Sie läßt sich immer finden, wenn es not tut. Aber sie strömt nicht einfach; sie stellt ihre Bedingungen, und erst deshalb ist sie für den Bildsamen eine bildende Liebe.

Bei der didaktischen Bearbeitung des Objektes muß aber auch der Entwicklungsstufe des Subjektes, nämlich des zu Bildenden, Rechnung getragen werden. Jedes Lebensalter hat seine eigentümliche Seelenstruktur. Von ihr her bestimmt sich die Aneigungsfähigkeit und Aneignungsweise. Dem geborenen Erzieher verwandelt sich sein Bildungsgut, obwohl es seinerseits eindeutige Forderungen an den Aufnehmenden stellt, unter der Hand doch ganz von selbst, je nachdem ob es sich an das magische Alter oder an das folgende, für das wir keinen übergeschlechtlichen Namen haben, oder an das Reifungsalter wendet. Ein und dieselbe Geschichte z.B. muß da ganz verschieden erzählt werden.

 

 Es wäre für den Anfänger lehrreich, solche „didaktischen Variationen“ über ein Thema einmal fixiert vor Augen zu haben.
Allgemein gilt: Der geborene Lehrer und Erzieher ist unablässig darauf bedacht, die verwirrende Fülle geistig geformter Weltgehalte auf einfache und der jeweiligen seelischen Entwicklungsstufe des Werdenden zugängliche Modelle zurückzuführen.

Es kommt also nicht einfach darauf an, daß eine Gemeinschaft da ist, in der und für die erzogen wird, sondern es kommt auf die sittlichen Gehalte an, zu denen sich die Gemeinschaft gleichsam wie das tragende Gefäß verhält. Deshalb kann diese Art der formenden Einwirkung auch niemals sich selbst überlassen bleiben, wie etwas, das  sicher und gut „funktioniert“. Es muß immer eine Persönlichkeit da sein, die die Wirkungen auswählt und lenkt. Der Gruppengeist bedarf der Kontrolle und der ständigen Reinigung durch das Gewissen. Ein Gewissen aber hat immer nur der Einzelne. Entscheidend ist, solange es noch der Hilfe und Führung bedarf ,  d a s   G e w i s s e n   d e s  E r z i e h e r s .

Der echte Erzieher stellt derartige philosophische Reflexionen kaum an. Er besitzt ein ursprüngliches Organ für die Bahnen, in denen der durch ihn hindurchwirkende Geist weht. Dieser Geist hat in Gemeinschaften, zu denen wesensmäßig „das Erzieherische“ gehört, wie etwa inFamilie und Schule, seine eigentliche Heimat. In andere wird der geborene Pädagoge ihn hineintragen; ja er wird immer den Drang empfinden, eine Jüngerschaft um sich zu versammeln, gleichsam eine Sekte im Dienst der Menschenveredlung.
Es ist kein Geheimnis, daß sich diese schöne Hoffnung nicht immer erfüllt. Ein Gebäude mit Klassenzimmern, ein staatlich oder anderswie beauftragter Leiter, eine Schulordnung und ein Stundenplan gewährleisten noch nicht, daß sich in diesem Rahmen der eigentliche Geist der Erziehung verwirklicht. Dazu gehört ein Schwung besonderer Art, der auch für ein hohes Gehalt nicht ohne weiteres zu haben ist. Worauf es beruht, daß in einem solcher Häuser Funken heiligen Feuers sprühen, in einem anderen aber nur eine kümmerliche Flamme schwelt, ist vielleicht gar nicht auszusprechen. Genug: man merkt es schon beim Hineintreten.
Die passive Müdigkeit, die so leicht in einer Klasse Platz greift, kann nur dadurch überwunden werden, daß alle mit allen ins Gespräch kommen und sich um etwas bemühen, das ihnen interessant ist. Interesse heißt „Dabei-sein“. Was getrieben wird, geht jeden an. Der Lehrer hört dadurch, daß er die Individualitäten eine Zeitlang frei walten läßt, nicht auf, Autorität zu sein. Er vermag die allgemeine Fröhlichkeit sofort wieder in Ernst zu verwandeln, wenn genug gelacht worden ist. Vor allem: seine Sache verbreitet deshalb immer eine wohltuende Temperatur weil sie immer darauf angelegt ist, daß man innerlich an ihr wächst. Wo dieses Gefühl durchbricht, ist ein guter Resonanzboden da. Wo es noch nicht erzielt werden konnte, behält der bestgemeinte Bildungsprozeß etwas von Abrichtung.

Es mag viel verlangt sein - aber wir träumen ja hier von einem Ideal: Gerade das Selbstverständliche, Unmerkliche seines Tuns macht den vollendeten Erzieher aus, und das pädagogisch gemeinte Zusammenleben ist eben ein Miteinander von reifen und heranwachsenden Menschen, bei dem Wertvolles geleistet wird, jedoch ohne den lauten Ausruf:“Hier wird erzogen“.Das sollte die Regel sein. Natürlich gibt es „Ausnahmezustände“, bei denen die stille Intention deutlicher hervortritt.
Falls jemand an dieser Stelle um nähere Auskunft bäte, wie denn ein so schönes Ziel zu erreichen sei, so kann man ihn leider nicht auf einen bestimmten Paragraphen eines Lehrbuches der Erziehungswissenschaft verweisen. Aber unsere von vornherein als mißverstehbar bezeichnete Redeweise vom „geborenen Erzieher“ kann doch durch weitere Aufhellung der Zusammenhänge verbessert werden.Zum Erzieher gehören eben Eigenschaften, die nicht auf Einsicht beruhen und daher weder lehrbar noch lernbar sind. Vor allem bedarf er der ständigen Selbstdisziplin. Man kann die Behauptung wagen:der wahre Erzieher lebt von dem Maß der Selbsterziehung, das  er an sich geleistet hat. Das Kapital von Energie und Methodik, das dabei angesammelt worden ist, setzt sich täglich in die kleine Münze des Einflusses auf andere um. Das Schönste dabei ist, daß es nie erschöpft werden kann, es sei denn bei völliger Erschöpfung der eigenen physischen Kräfte, die allerdings bei einer so anstrengenden Tätigkeit wie der des Pädagogen eine immer nahe Gefahr bedeutet.
Schon das Geheimnis des Disziplinhaltens klärt sich von diesem Zusammenhang her auf . Mancher besitzt diese Gabe vom ersten Augenblick an. Wer sie nicht hat, mag sonst ein sehr ehrenwerter Mann sein; aber zum rechten Erzieher fehlt ihm Wesentliches. Das Ordnungshalten kann man auch nicht „lernen“. Man muß vielmehr sein eigenes Inneres sorgfältig revidieren, ob in ihm die Verhältnisse von Willensmacht und Unterordnung richtig verteilt sind. Mit der sicheren Herrschaft über sich selbst fängt alles Regieren von Menschen an. Äußere Zwangsmittel helfen wenig. Innere Qualitäten sind entscheidend. Man muß freilich hinzufügen es sind besondere Eigenschaften, die der Jugend je auf ihren verschiedenen Stufen imponieren. Wer gerade über sie nicht verfügt, mag im Rate der Weisen viel gelten: unser "geborener Erzieher“ ist er nicht.

 

Arbeitsauftrag:

  • Fassen Sie die Vorstellungen Sprangers vom Wesen des „geborenen Erziehers“ zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch.
  • Auch wenn Sprangers Titel vom „geborenen Erzieher“, seinen eigenen Hinweisen gemäß, nicht ganz wörtlich zu nehmen ist, so sind doch genügend Hinweise auf ein wörtliches Begriffsverständnis vorhanden, z.B. wenn Spranger von Eigenschaften spricht „die nicht auf Einsicht beruhen und daher weder lehrbar noch lernbar sind.“ Reflektieren Sie dieses Begriffsverständnis auf dem Hintergrund Ihrer Ausbildung.
  • Wenn Sie Ihre Kolleg(inn)en und sich selbst mit dem von Spranger gezeichneten Bild des „geborenen Erziehers“ vergleichen, wie fällt dieser dann aus ? Ergeben sich für Sie daraus Konsequenzen für Ihre künftige Berufsausübung ?
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Rainer Winkel: Die Persönlichkeit des Lehrers

 

Der Lehrer im ersten Drittel (und z.T. noch bis in die 60er Jahre) dieses Jahrhunderts hatte das Problem zu lösen: Wie verwirkliche ich mit Hilfe der mir von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten
Autorität die gewünschte Disziplin, Ordnung, Leistung und Gesinnung? Demgegenüber fragt sich der heutige Lehrer: Wie erreiche ich ohne den Rückgriff auf Autorität selbstverantwortliches Handeln, Offenheit, Engagement und kritisches Bewußtsein? Die einen waren also gehaßte „Dompteure“ (im schlechteren) und respektierte „Autoritäten“ (im besseren Fall). Die anderen sind entweder verzweifelte „Beziehungsarbeiter“ (sofern sie noch nicht resigniert haben) oder fluchtbereite „Alternativisten“ (die eher aufs Land  ziehen als gewisse Konsequenzen - z.B. die Konsequenz aus dem Irrtum, der behauptet(e), Freiheit und Regellosigkeit seien identisch und jeder um Ordnung Bemühte ein rechtsradikaler Chauvi, wenn nicht gar ein offenkundiger Faschist).
Es bleibt die Notwendigkeit inmitten vieler Möglichkeiten, die Persönlichkeit des Lehrers zu bilden. Aber wie und - in welchen Ausmaßen?

Eine Abbildung und einige Erläuterungen

AntinomienEiner der wichtigsten Aufsätze inmitten der ansonsten überquellenden Literatur zur Lehrerpersönlichkeit stammt von Herbert Gudjons [1], dem es zum erstenmal gelungen ist, wesentliche Aussagen der psychoanalytischen Theorie auf das Problem der Persönlichkeit des Lehrers so zu beziehen, daß es pädagogisch sichtbar wird. Denn daran krankten bekanntlich die älteren Lehrertypologien; sie klassifizierten und schrieben fest, anstatt zu beschreiben und auf Veränderungen hin zu öffnen:
Wenn Christian Caselmann z.B. dem mehr der Sache zugewandten Lehrer das Attribut logotrop zuordnete und den eher das Kind und seine Bedürfnisse im Auge habenden einen paidotropen Lehrer nannte, wenn die Waldorfpädagogik im Rückgriff auf Hippokrates von sanguinischen, cholerischen, phlegmatischen und melancholischen Lehrern spricht; die einen von intro- und extravertierten, die anderen von autoritären oder laissez-faire-haften Erziehern reden ..., dann schweben all diese Typisierungen in der Gefahr, daß in  sie nicht(s)  hineingelernt werden kann - vor allem nicht durch die Betroffenen selbst. Genau da setzt die Gudjons`sche Bemühung an. Denn selbstverständlich gibt es „typische Züge“, „hervorstehende“ Merkmale und „bleibende Eigenschaften“ des Lehrers. Und doch: Die folgenden Erläuterungen wollen den von Gudjons aufgezeigen Neuansatz aufnehmen und an einer entscheidenden Stelle fortführen.
Wer sich, bevor er hier weiterliest, einige Zeit in die obige Abbildung vertieft, erkennt unschwer dies: Jeder Mensch spürt bestimmte Kräfte, Bedürfnisse, Ängste, Grundhaltungen und  Krankheitsgefahren in sich und von seinen Mitmenschen her. Diese jeweilige Kraft zur, dieses bestimmte Bedürfnis nach, manche Angst vor, eine bestimmte Grundhaltung gegenüber sowie die eine oder andere Erkrankung an ... bilden ein untrennbares und wechselseitig aufeinander wirkendes Ganzes, das lediglich zum Zweck der Verständlichkeit im folgenden wie ein zu zergliederndes Cluster von Merkmalen erläutert werden soll. Daß dabei die Erkenntnisse von Fritz Riemann die theoretische Grundlage bilden, sei ausdrücklich betont.[3]
Die Kraft zur Individuation, die Tendenz zur Selbstwerdung ist in jedem Menschen vorhanden:Schon der Säugling lebt nicht nur mit der Realität einer Mutter-Kind-Symbiose, sondern auch mit der Potentialität, ein unverwechselbares eigenes Ich zu werden. Dazu freilich ist ein gewisses Maß an Distanz zum Du nötig: Ich und Du sind nicht identisch und deckungsgleich, sondern zwei Pole einer elliptischen Beziehung. Wird nun dieses Bedürfnis nach Distanz gar nicht oder zu abrupt und überwältigend befriedigt, entsteht Angst, genauer: „Die Angst vor Nähe“ (Schmidbauer), davor: überhaupt Bindungen vertrauensvoll einzugehen, da sie entweder die eigene Selbstwerdung bedrohen oder aber für den Aufbau des eigenen Ich überflüssig sind. Besonders anfällig für solche intentionalen Gehemmtheiten ist der werdende Mensch in der ersten, derjenigen Phase also, in der Urvertrauen und basale Bindungen angestrebt, aber auch erschwert und verhindert werden können. Schizothyme - also markant (sich) abgrenzende - Verhaltensweisen können sich in einer solchen Biographie zum Schutze der bedrohten Persönlichkeit ausbilden. Wird nun diese Tendenz nicht aufgehalten, ein solches - zunächst einmal völlig gesundes - Verhalten progredieren, extreme Ausmaße annehmen, überwertig werden, dann schwebt ein solcher Mensch zumindest in der Gefahr, in eine derjenigen Krankheiten zu taumeln, die wir dem schizophrenen Formenkreis zuordnen.
Für alle anderen jedoch gilt: Menschen mit zur Individuation drängenden Kräften, auf Distanz wertlegenden Bedürfnissen, vor allzu engen Bindungen sie warnenden Ängsten sowie Menschen mit zur Abspaltung unliebsamer Triebe, Gefühle und Gedanken tendierenden  psychisch-sozialen Gefährdungen entwickeln im Laufe ihres Lebens gewisse Grundhaltungen und bringen diese ihre Persönlichkeit auch in ihren Beruf ein.
Soweit es sich um den pädagogischen handelt, könnten wir von einem sachlich orientierten, eher kühlen und bedächtigen, um Gerechtigkeit und Leistung bemühten Anspruchslehrer sprechen, der nicht besser oder schlechter als seine Kollegen ist, sondern lediglich anders. Problematisch wird diese Leherpersönlichkeit nur und erst dann, wenn sie extreme Formen annimmt.

Um eben jene Übertreibung zu verhindern, kennen wir alle eine entsprechende Gegenkraft in uns: die Kraft zur Hingabe an ein Du, aus der ein Bedürfnis nach Nähe resultiert. Auch dieses aber muß entwickelt, erzogen, gebildet werden, wenn die Angst vor der Ferne nicht überhand nehmen soll. Wenn hier - vor allem in der oralen Phase - unnötige Versagungen zugemutet werden, wer weder über den Mund (lat. Os,oris) noch seine Hände genügend haben bzw. greifen (lat.captare)durfte, wessen Besitzansprüche umgekehrt grenzenlos befriedigt wurden, wer gar keine Frustrationen zu verarbeiten gelernt hat, wird auf Trennungen und Versagungen weinerlich oder aggressiv reagieren.
Dieser Teil unserer Persönlichkeit sucht also Nähe, Wärme, Verständnis und Liebe. Menschen, deren Kräfte, Bedürfnisse, Ängste und Gefährdungen aus diesem Bereich heraus dominieren, konstituieren eine Grundhaltung, die von einem Hang zum Emotionalen gekennzeichnet ist. In der Schule werden sie gern als Kumpellehrer wahrgenommen, die - in positiven Fällen - engagiert die Interessen von Schülern vertreten, jedoch - in negativen Zusammenhängen - um die Gunst ihrer Schüler buhlen.

Eine dritte Kraft in uns strebt nach Dauer und Kontinuität, will Tradition und Konservation. Ein Bedürfnis nach Überschaubarkeit, Regelhaftigkeit und Ordnung wird (vornehmlich in einer dritten Lebensphase) grundglegt und kommt der Sehnsucht nach Erwartbarkeit und Übersichtlichkeit entgegen. Wird es nicht oder nur unzureichend akzeptiert, mobilisiert dies eine Angst vor der allzu raschen Vergänglichkeit, auf die oft genug hektisch-panisch reagiert wird. Umgekehrt: Wo ein Kind (z.B. in der Phase der Überwindung des unwillkürlichen Einnässens und Einkotens) auf Ordnung, Regeln und Gehorsam gleichsam getrimmt wird, ist die Gefahr groß, daß daraus krampfhafte Verhaltensweisen und Einstellungen erwachsen, ja im Extremfall Zwangsneurosen entstehen.
Bleiben solche Übertreibungen hingegen aus, dann sorgt dieser Teil unserer Persönlichkeit dafür, daß wir nicht chaotisieren und sprunghaft-hektisch werden, sondern eine Haltung ausbilden, die gelassen und konsequent inmitten von gelegentlich allzu großer Offenheit auf Regelungen, Eindeutigkeiten und Überschaubarkeiten besteht. Dominiert eine solche Einstellung bei einem Pädagogen, könnten wir von einem Ordnungslehrer sprechen, der seine positiven Seiten im Herstellen von strukturierter Gestaltung besitzt, in den negativen Zügen jedoch den Pedanten und Ordnungsfanatiker ablegt.
Um eben jene Perversion zu verhindern, ist die Kultivierung einer vierten Kraft (als Gegengewicht) nötig: die Kraft zur Veränderung, zur Reform, zur Verbesserung. Nur Dauer hieße Erstarrung, nur Ordnung bedeutet Leblosigkeit. Dieses Bedürfnis nach Neuheit, Freiheit und Offenheit wird in derjenigen Phase besonders gelernt, in der die Beziehungen des Kindes zu den Eltern und Geschwistern zum erstenmal problematisch werden. Je nachdem, ob es den Vater und die Mutter als Konkurrenten oder faire Partner, als Objekte von Libido und Destruktion oder als Subjekte von Liebe und Aggression erfahren konnte, wird es entweder ödipal fixiert bleiben oder ein auf Selbstbestimmung hin freigegebenes Wesen werden können, wird es zu hysterischen (zur Schau stellenden) Reaktionen neigen und in Konfliktfällen entsprechende Neurosen aktivieren oder einen Gestaltungswillen dokumentieren, der die eigenen Rechte mit denen anderer solidarisch auszutarieren versteht. Diese Grundhaltung in Richtung Offenheit und Veränderung wird sich in allen Berufsgruppen finden. Und auch in der Schule sind solche Freiheitslehrer nötig. Denn sie verhindern Erstarrung und Friedhofsruhe, Abhängigkeit und Duckmäusertum, Verabsolutieren sie ihre Einstellung jedoch, dann drohen Chaos und Rebellion, Unverbindlichkeit und Gaukelei - von der Erziehung bis zur Unterrichtsvorbereitung.

Dies nun ist die entscheidende Stelle: Dem Lehrertyp entgeht man nicht dadurch, daß man jedwede Akzentuierung und Profilierung vermeidet, mit anderen Worten: alles sucht und nichts findet, harmoniesüchtig jede Dissonanz scheut und alle Konflikte ausklammert. Nein, jeder Lehrer soll und muß seinen „Charakter“, sein „Profil“, seine individuelle „Persönlichkeit“ haben. Aber er wird sie nur dann ausbilden können, wenn er das Extreme in sich ebenso vermeidet wie das Nebulöse, dem Ichkult sich genauso wenig hingibt wie der Diktatur des Man oder des Wir. Zu einer Persönlichkeit wird nur derjenige Lehrer, dem alle vier Kräfte aufeinander angewiesene Teile ein und derselben Biographie, Existens und Person sind; der keines der divergierenden Bedürfnisse vernachlässigt oder verabsolutiert; der jede Angst erst einmal zuläßt; und doch keine so weit entfacht, daß sie in eine Krankheit umzuschlagen vermag. Kurz: Vom Lehrertyp zur Lehrerpersönlichkeit kommen wir nur dann, wenn jeder seine Eigenart bejaht und doch zum Zentrum hin sich orientiert, d.h. nicht in Richtung der Pfeile schaut und quasi zentrifugale Aktivitäten entfaltet, sondern der versucht, seine eigene Dominanz als Ausgleich für andere Dominanzen in den Kreis eines spannungsgeladenen und doch um den common sense bemühten Kollegiums einzubringen. Da mag sich der eine eher „rechts oben“ oder „links unten“ verorten, entscheidend ist seine Bereitschaft, den bzw. die jeweils anderen Kollegen zuzulassen.
Eine solche Persönlichkeit könnte und würde ich einen Antinomielehrer nennen, eben weil er kein Typ (mehr) ist, sondern weil er einerseits die unverwechselbare Eigenart seiner Person sucht und ausbildet, weil er andererseits aber auch die aus der Notwendigkeit anderer Persönlichkeiten resultierenden Spannungen aus- und durchhält... .
Ein solcher Lehrer lebt nicht aus der permanenten „Kritik der  Lehrerrolle“[4] und doch wird er keine der ihm angetragenen und abverlangten Rollenerwartungen kritiklos übernehmen. Er ist auch nicht jener „gebrochene Lehrer“, der „gebrochenen Schülern auf die Beine zu helfen"[5]  versucht (weil dies aber nicht gelingt, von einer Therapie in die andere flüchtet), und doch wird er sensibel sein für Verletzungen, Ungerechtigkeiten und persönliches Leid. Und schließlich ist er kein „Anti-Lehrer“ [6] , dem Pädagogik allenfalls subversiv möglich erscheint, und dennoch ist er kein bloßer Erfüllungsgehilfe von Staat und Gesellschaft.

 

Rainer Winkel: Die Persönlichkeit des Lehrers.
In: betrifft: erziehung, Heft 1/86

Ausführliche Studien zu den Widersprüchen und Spannungen in Erziehung und Schule finden
sich in dem demnächst erscheinenden Buch:
Rainer Winkel: Antinomische Pädagogik und Kommunikative Didaktik. Düsseldorf Schwann 1986

 

Arbeitsauftrag:

  • Fassen Sie die Vorstellungen Winkels von der Persönlichkeit des Lehrers zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch
  • Lassen sich Ihrer Meinung nach die Äußerungen Winkels in einem Kausalschema darstellen (im Sinne von „wenn... -> dann...“ oder „Ursache  ->  Wirkung“) ?
  • Wie können Sie – nach Winkel – vom Lehrertyp zur Lehrerpersönlichkeit werden ? Könnten Sie Winkels Aussagen – auf Sie selbst bezogen – akzeptieren ?

 

Literaturverweise

[1] Herbert Gudjons:Lehrerpersönlichkeit im Aufwind. In:Westermanns Pädagogische Beiträge,34(6/1982),S.249-252.

[2] Christian Caselmann:Wesensformen des Lehrers (Original 1949) Stuttgart:Klett 4.1970

[3] Fritz Riemann:Grundformen der Angst, München-Basel:Reinhardt 1. Auflage 1975,13. Auflage 1981.

[4] Arno Combe:Kritik der Lehrerrolle.München:List 1971.(Combe ist - im Gegensatz zu den beiden weiter oben zitierten Autoren Ziehe und Bastian - Jg.1940 und einer der prominentesten Vertreter der 68er-Generation.Vgl. auch seine beiden folgenden Bücher:Krisen im Lehrerberuf. Bensheim: pädex Verlag 1979. Alles Schöne kommt danach. Die jungen Pädagogen. Reinbek:Rowohlt 1983.

[5] ders. In: H.Stubenrauch: a.a.O., S. 196f.

[6] ders.: a.o.O. S.193

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Arno Combe: Kritik der Lehrerrolle

Der Schulmeister

Die intentionale Erziehung des Volkes und der „niederen Stände“ begann in den Handelsstädten des Mittelalters, wo ein dringendes Bedürfnis nach Kenntnissen in der Muttersprache, Lesen, Schreiben und Rechnen bestand. Die ersten Lehrer waren deshalb Lese-, Schreib- und Rechenmeister, die in den Hansestädten für die zahlungskräftige Kaufmannschaft zunächst auf privater Basis die Ausbildung ihrer Kinder in den Kulturtechniken übernahmen. Diese Lehrer rektrutierten sich aus Studenten, fahrenden Schülern oder gescheiterten und stellungslosen Theologen. Immer mehr nahm sich der städtische Rat des ‘niederen Schulwesens’ an, indem er entweder die Schulen selbst einrichtete und die Lehrer besoldete oder aber die privaten Lehrer konzessionierte und ihnen eine feste Stellung in der städtischen Verfassung zuwies. Unter solchen Bedingungen organisierte sich in Städten wie Lübeck, Frankfurt, Nürnberg, Augsburg und München um 1300 ein hauptberuflicher Lehrerstand, der sich nach dem Vorbild der Zünfte strukturierte.

Der Küsterlehrer

Mit der Reformation wird das Schulehalten zu einer Nebenfunktion des Dorfküsters, wie aus der Kursächsischen Kirchenordnung von 1580 oder aus Luthers Sermon  „Daß man Kinder solle zur Schule halten“ zu entnehmen ist. Der Küsterlehrer wird hierbei ausdrücklich unter die geistliche Schulaufsicht des jeweiligen Dorfpfarrers gestellt. Diese Abhängigkeit ist vor allem beim Küsterlehrer verknüpft mit einer Anzahl ‘niedriger Kirchendienste’, vom Läuten bis zum Aufziehen und Stellen der Turmuhr, dem Reinigen der Kirche und dem Gesang bei Beerdigungen. Bungardt zählt 32 solcher Dienstleistungen auf. Der Lehrer war dabei finanziell völlig ungesichert und abhängig von den Schulgeldern der Eltern, die meist in Naturalien abgeliefert wurden.

Der Lehrerberuf als Sammelstätte für beruflich Gestrauchelte, Sekundärfunktion und Nebenverdienstquelle  zahlreicher anderer Berufe

So fand etwa Friedrich II., daß ehemalige Soldaten und Unteroffiziere, zum Felddienst untauglich und eines bürgerlichen Arbeitslebens ungewohnt, für den Schulmeisterdienst gerade gut genug seien. Im preußischen Generalschul-Reglement von 1763 forderte man vom Lehrer, daß er ein ‘nützliches’ Handwerk als Haupttätigkeit ausübe, nicht zuletzt deshalb, daß sie ‘wissen, wie sie ihre Zeit im Sommer, da auf dem Lande keine Schule gehalten wird, zubringen’. Der Hauptgrund war aber, daß man sich vom kümmerlichen Verdienst des Lehrers nicht ernähren konnte. Eine preußische Verordnung von 1738 gesteht den Schullehrern das Schneidermonopol zu, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Noch 1806 befanden sich im Preußischen Lehrerseminar 109 Schneider, 21 Schuster, 5 Tischler usw.
Der Volksschullehrer gehörte also bis um 1800 mit Ausnahme der Lehrer in den Städten ökonomisch wie geistig zum Proletariat, über das sich selbst die niedrigsten Stände noch erhaben fühlten, wie es das Spottlied vom „armen Dorfschulmeisterlein“  charakterisiert. Verachtung, Rechtlosigkeit und Bevormundung von geistlicher und weltlicher Obrigkeit waren weitere Kennzeichen des Standes. Motoren der gesellschaftlichen Emanzipation des Lehrerstandes waren nun das Staatsbeamtentum, die permanente Verbesserung der Ausbildung sowie die Volksbildungsidee in Preußen, wo der Lehrer eine Art ‘Kulturmission’ zugewiesen bekam. Erst im Jahre 1893 wurde das Schulamt in Preußen als ‘Hauptamt’ eingeführt, was zwar einen kargen, aber dann doch regelmäßigen Lohn brachte. Die entscheidende Verbesserung und Anhebung des Volksschullehrergehaltes brachte aber erst die Zeit nach 1945. Übrigens in enger Wechselbeziehung mit einer Anhebung des Ausbildungsstandards.
Einen wichtigen Mechanismus der sozialen Kontrolle stellt die eigene Erziehung in einer bestimmten Herkunftsschicht dar. Diese führt bei ihm selber zunächst dazu, daß er am Bestehenden nichts ändern will, um die durch den Aufstieg erworbenen Privilegien nicht zu verlieren. Die Lehrer tun zunächst das, was sie selber gelernt haben.
Die Lehrer haben eine aktivistische Wertorientierung verinnerlicht. Es wurde an anderer Stelle gezeigt, wie sie die gesellschaftliche Ordnung als hierarchisch ansehen. Nur die Beibehaltung einer klar nach Rängen geordneten Gesellschaft bietet die Voraussetzungen, überhaupt aufsteigen zu können. Die Vorstellungen, die sich mit dem Modell einer an Effizienzkriterien ausgerichteten Gesellschaft verbinden, befestigen defensiv den Charakter der gegebenen Sozialordnung gegenüber alternativen Modellen der gesellschaftlichen Produktion und Distribution. Formen der Ungleichheit werden sanktioniert, wenn sie durch individuelle Leistungen zustande kommen. Die Lehrer zeigen im Gefolge ihres Leistungsdenkens ein starkes Abwehrverhalten nach unten: Man wehrt sich gegen alle Nivellierungstendenzen, grenzt sich klar ab.
Der eigene soziale Aufstieg ist in der Regel mit einer peinlichen Einhaltung der etablierten Regeln erkauft, mit einer ängstlichen Kopierung der Normen der durch den Aufstieg erreichten Schicht: Konformität zahlt sich aus. Das Konkurrenzverhalten, die individuelle Statuskonkurrenz, die Rivalität innerhalb der eigenen Gruppe begrenzt allerdings die Fähigkeit zu kollektivem politischen Verhalten.
Es gibt neben diesem ‘inneren Zwang’ zahlreiche äußere Mittel, damit die Lehrer das tun, was von ihnen verlangt wird, wie man sie auf ‘Vordermann’ bringen kann.  Die Einhaltung der Erwartungen durch den Lehrer von seiten einzelner gesellschaftlicher Gruppen wird dabei durch ein soziales Kontrollsystem durchgesetzt. Dazu gehören etwa der Entzug der gesellschaftlichen Anerkennung von seiten einer bestimmten Elternschaft, die Notwendigkeit, sich im verwaltungsbürokratischen System an die Regeln zu halten, wenn man Karriere machen will, z.B. die Möglichkeit der Schulverwaltung, Druckmittel einzusetzen, die die berufliche und wirtschaftliche Existenz bedrohen (Relegation, Kürzung des Gehaltes etc.). Die raffiniertesten Kontrollmittel scheinen aber das Lächerlichmachen zu sein (Ironie, Spott, Karikatur des Unzulänglichen), die soziale Ächtung (zum öffentlichen Ärgernis degradieren), die teilweise „Stigmatisierung“ des Berufsstandes.
In einigen deutschen Untersuchungen ergibt sich ein ausgesprochen negativ gefärbtes Stereotyp des Lehrers: „Der Lehrer wird vielfach im Film als Karikatur des Unzulänglichen, hart und ohne Gefühl für seine Zöglinge und nur in einzelnen Exemplaren menschlich dargestellt.“ Dieses Stereotyp findet sich auch in der Literatur: auf der einen Seite Anklage, Abneigung, ja Ausfälle gegen die Schule, auf der anderen Seite Spott, Ironie und Verniedlichung. Die Schule und der Lehrer werden vielfach zum öffentlichen Ärgernis degradiert.

Arno Combe: Kritik der Lehrerrolle
.München 1971

Arbeitsauftrag:

  1. Fassen Sie Combes historisch – soziologische Deutung der Lehrerrolle mit den aus ihr resultierenden Folgerungen zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch.
  2. Combe zielt mit seinen Ausführungen auf die Lehrerschaft gegen Ende der 60-er, Anfang der 70 er Jahre. Was hat sich Ihrer Meinung nach angesichts des 3. Jahrtausends geändert ?
  3. Sehen Sie bei den heutigen Lehrern soziologisch bedingte „Krankheitssymptome“ ? Welcher Art sind sie ?
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Geißler: Der Lehrer - Lehrerrolle, Rollenvielfalt, Rollenkonflikt

1) Wie versteht sich ein Lehrer?

  • Ist er ein Beauftragter des Staates und an dessen Weisungen gebunden?
  • Ist er, in der Schule als einem „Subsystem der Gesellschaft“ tätig, mit deren Regeneration beschäftigt?
  • Handelt er im Auftrag der Eltern, deren Erziehungsrecht im Rahmen institutionalisierter Lehre weiterführend?
  • Wirkt er als Anwalt des Kindes gegenüber staatlichen Belangen wie auch gegenüber mißverstandenen elterlichen Erziehungsansprüchen?
  • Ist er, als Fachlehrer in einem speziellen Bereich wissenschaftlich ausgebildet, Hüter der Tradition und auf deren exakte Weitergabe aus?
  • Soll er Weichensteller der Zukunft sein, damit die „Utopie“ eines besseren Lebens, eines „neuen Menschen“ in einer „neuen Gesellschaft“ über Erziehung in der nächsten Genration Wirklichkeit wird?

 

Diese Fragen sind, selbst wenn die eine oder andere heute wieder besonders populär geworden ist, allesamt alt (1). Teils wurden sie explizit in heftigen Entgegensetzungen  diskutiert, teils fanden sie mehr eine implizite Behandlung. Dabei kam es mitunter zu bemerkenswerten Gegensätzen. So hing beispielsweise das bekannte Bild Pestalozzis in Stans. Beispiel des Lehrers als Anwalt des Kindes, jahrzehntelang in sehr vielen Schulklassen, doch wohl als Aufforderung an die Lehrer, es diesem Vorbild gleichzutun. Zur selben Zeit war indes die Schulgesetzgebung im wesentlichen darauf ausgerichtet, im Lehrer einen Beauftragten des Staates zu sehen und ihn sehr eng an Reglementierungen zu binden. Oder ein anderes Beispiel: Die Lehrplanentwicklung der höheren Schule im letzten Jahrhundert hatte, im deutlichen Gegensatz zu Humboldts Konzeption, der Vermittlung von Tradition den Vorzug gegeben. Dem war durch die Reformpädagogik, durch Nietzsches Schulkritik angestachelt, das Eigenrecht des Kindes entgegengehalten worden. Oder: Während bei uns die Elternrechtsdiskussion stark im Deklamatorischen blieb, hat die ganz anders geartete angloamerikanische Schulorganisation Lehreranstellung wie Lehrerentlassung stets als ein direktes demokratisches Verfahren interpretiert (Schulgemeinde) und damit dem elterlichen Mitspracherecht umfangreiche Wirkungsmöglichkeiten eingeräumt. Schließlich: Selbst in den verschiedenen Schulformen haben sich divergierende Auffassungen über den Lehrer und seine Aufgabe niedergeschlagen. So lag das besondere Pathos des ehemaligen Volksschullehrers, bei aller organisatorischen Einschränkung der Möglichkeiten, vornehmlich in einer Förderung der Schüler, weniger in der Auslese. Dagegen war der Gymnasiallehrer von seinem Selbstverständnis her viel deutlicher auf Auslese ausgerichtet, nämlich jene Schüler auszuwählen, die sich im Umgang mit wissenschaftlichen Inhalten bewährten. In der Literatur war es deshalb üblich geworden, den pädagogisch besonders qualifizierten Lehrer mehr im Bereich der Volksschule anzusiedeln - man vergleiche die einschlägigen Schriften aus der Zeit der Reformpädagogik über den „geborenen Erzieher“ (2) oder „die Seele des Erziehers“ -, den Gymnasiallehrer dagegen mehr in die Nähe eines Professors zu rücken, der zuerst der Wissenschaft verpflichtet ist. Die Landerziehungsheimbewegung (3) hatte diese Trennung aufzuheben versucht und war bemüht, auch in weiterführenden Schulen den Erziehungsaspekt stärker hervorzuheben.
Diese Diskussion über das Selbstverständnis des Lehrers ist heute noch längst nicht abgeschlossen. Sie wurde indes teils zurückgedrängt, teils vergessen, besonders aber überlagert durch eine Diskussion, die zunächst einmal gar nicht genuin pädagogischer Natur ist, sondern soziologischer, nicht nur auf die Situation des Lehrers zutrifft, sondern für alle Berufe. Das ist die Diskussion um Begriff und Sache „Rolle“ (4), und die Behauptung, wir seien eine „Rollengesellschaft“.

3)Übertragen wir die Grundbezüge des Rollenkonzeptes auf die „Lehrerrolle“ (5), so zeigt sich sofort, daß der Lehrer innerhalb eines mehrteiligen Geflechts von Bezugsgruppen steht, die unterschiedliche Erwartungen  an ihn haben:

  • der Staat als einstellende Behörde, der ihn besoldet, ins Beamtenverhältnis bringt, ihn in eine Schulstelle einweist oder versetzen kann, seine Amtsführung beaufsichtigt, ihm Lehrpläne vorlegt;
  • die Eltern, nach dem Grundgesetz die eigentlichen Erziehungsträger;
  • sogenannte „Abnehmergruppen“ (ein heikles Wort, weil sich in ihm eine situationsunangemessene Analogie zum Markt ausdrückt), daß heißt jene, die auf einen kalkulierbaren Ausbildungserfolg warten (Berufsinstitutionen im besonderen, aber auch die Gesellschaft insgesamt, die einen handlungsfähigen, verantwortlichen, sich für die Belange des Gemeinwesens engagierenden Bürger erwartet).
  • Da sind Kollegen, mit denen gemeinsame Schulordnungen, Klassenordnungen, Notenmaßstäbe und Schülerbewertungen, Hausaufgabenverteilungen, außerschulische  Aktivitäten, Lehrplankoordinationen abzusprechen sind.

Beeinflussung 

4) Der Lehrer steht, wie jeder andere Berufsausübende auch, nicht nur im Bezugssystem einer einzigen Rolle .Er ist, nimmt man das bekannte Beispiel Dahrendorfs (7), außerdem wahrscheinlich Familienmitglied, vielleicht Angehöriger einer Kirchengemeinde, eines Vereins, einer politischen Partei. So wichtig und bedeutsam solche ergänzenden Verpflichtungen auch sein mögen, sie bringen sicherlich zusätzliche Spannungen mit, die man in der Sprache der Rollentheorie Interrollenkonflikte (8) nennt. So beschränken mit der einen Position immer verbundene zeitliche Belastungen die Möglichkeiten des Engagements bei einer anderen. So können weltanschauliche Aussagen in einer Kirchengemeinde auf eine mehrheitlich anders orientierte Staatspolitik treffen. So können die weltanschaulichen oder politischen Vorstellungen der eignen Kinder von denen der selber als Lehrer tätigen Eltern differieren, was zu Spannungen zwischen den in den Unterricht einfließenden Wertmustern und Teilen der eigenen Lebenspraxis führt.

Problematischer sind indes die sogenannten Intrarollenkonflikte (9), die durch unterschiedliche Erwartungslagen der verschiedenen Bezugsgruppen innerhalb des Berufs selber auftreten. Einige Beispiele:

  • Geht das, was der Staat erwartet, mit dem konform, was Eltern erwarten?
  • Geht das, was Eltern erwarten, mit dem konform, was Schüler erhoffen?
  • Geht das, was Schüler erwarten, konform mit dem, was von Kollegen, von Eltern, vom Staat erwartet wird?

Damit sind wir dann wiederum bei den eingangs genannten, zuerst von Hermann Nohl (10) formulierten Fragen: In wessen Namen versteht sich der Lehrer zuerst? Jetzt freilich etwas modifiziert: Wie löst er diese Konflikte? Schlägt er sich einfach auf eine Seite, oder hält er sich durch Rückzug auf fachspezifische Inhalte nach Möglichkeit überhaupt aus solchen Konflikten heraus?
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß der Lehrerberuf ein offensichtlich sehr spannungsgeladener ist. Höchst unterschiedliche Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen bringen den Lehrer unter Belastungen, die der nicht sieht, der den Lehrer einfach als Fachlehrer, daß heißt als Fachmann für fachliche Informationen , interpretiert. Spätestens hier zeigt sich dann aber auch, daß die aus dem Funktionalismus abgeleitete Polyvalenzthese von einem sehr fragwürdigen Optimismus ausgeht und von Naivität nicht frei ist. In ihrer Konsequenz wird eine berufsorientierte frühe Praxiserfahrung nämlich zu lange aufgeschoben. Das ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn man von der Annahme ausgeht, als ob jeder für den Lehrerberuf taugen würde, wenn er nur wolle. Der vielberedete Praxisschock zeigt allerdings deutlich in eine andere Richtung. Der junge Lehrer erfährt in der Regel zu spät die tatsächlichen Belastungen dieses Berufs. Für den Wechsel in einen anderen Beruf ist es dann meist bereits zu spät. Man arrangiert sich mit der Situation durch eine Art von Abkapselung, daß heißt, Vermeidung von Konflikten durch Rekurs auf ein einziges Rollensegment, weil man nicht zeitig genug gelernt und erfahren hat, der Vielfalt der Erwartungen gerecht zu werden und sich darauf einzustellen. In der Sprache des interaktionstheoretischen Rollenkonzepts: Diese Lehrer können ihre eigene Identitätsbalance nur dadurch festhalten, daß sie sich den vielfältigen Erwartungen der Bezugsgruppen gegenüber reserviert verhalten:

  • Abkapselung gegenüber den Eltern (sowenig wie möglich Kontakte),
  • Abkapselung auch gegenüber den Schülern durch reine Sachgespräche und durch Vermeidung weiterreichenden persönlichen Engagements,
  • Abkapselung auch gegenüber den Kollegen (der einzelne Lehrer isoliert sich als Fachlehrer).

Gegenüber diesen Gefahren muß die Mehrdimensionalität des Lehrerberufes deutlich herausgestellt werden und damit die entschiedene Forderung an die Lehrerbildung, auf diese mehrteilige Aufgabe rechtzeitig vorzubereiten. Über diese Mehrdimensionalität der Lehrrolle (11) informiert das Schema.
Lehrerrolle  

Damit sind die Gegensätze gekennzeichnet:

  • Der Informator vermittelt in der Kühle wissenschaftlicher Distanz.
  • Der Partner berät, appelliert, mahnt, hält zurück, treibt an.
  • Das Vorbild stellt durch seine Person moralische Forderungen auf.
  • Der Kontrolleur (Examinator) versagt sich gerade als Person notwendiger Objektivität wegen.
  • Dem Erzieher ist der einzelne Mensch, das Individuum vorrangig, der pädagogische Bezug ist individualisierend (bereits Pestalozzi formulierte: „Erziehung geschieht nur unter Zweien“) (51).
  • Für den Informator ist die Individualität des Schülers zwar nicht unerheblich, tritt aber vor der gleichmäßigen und nach Möglichkeit auch gleichzeitigen „Beschulung“ einer größeren Gruppe im Klassenverband zurück.
  • Für den Fachmann ist Lehren informationsorientiert.
  • Für den Erzieher ist Lernen ein existentieller Vorgang der Wertnahme, Wertbejahung, Weltorientierung.
  • Für den Fachlehrer ist es eine zwar ärgerliche, für die zu vertretende Sache indes sekundäre Angelegenheit, wenn einzelne Schüler gewünschtes Wissen nicht nachweisen können.
  • Der Erzieher, dem Vermittlung und Weitergabe von Werten nicht gelingt, gerät unter existentielle Betroffenheit.

Unter solchen Entgegensetzungen erst gewinnen die als Intrarollenkonflikte deklarierten Alltagsprobleme des Lehrers besondere Bedeutung, nämlich durch die Spannungen zwischen

  • Partner versus Examinator,
  • Berater versus Sozialchancenverteiler,
  • Vorbild versus Fachmann.

Verstärkung des Erzieherischen muß indes nicht auf Kosten solider Wissensvermittlung geschehen. Es gibt, wie im Abschnitt „erziehender Unterricht“ schon dargelegt, eine Konzeption von Unterricht, in der sich beide Positionen zwar nicht reibungslos miteinander verbinden lassen, indes doch eine deutliche Verschränkung sichtbar wird:

  • Erziehung in der Schule geschieht „auf dem Rücken von Unterricht“ und würde ohne Unterricht gar nicht stattfinden können,
  • die erzieherische Komponente wiederum erweist sich als eine nicht hoch genug einzuschätzende motivationale Grundlegung auch des Fachunterricht.

Bedingung für einen solchen „erziehenden Unterricht“ ist freilich,

  • daß Lehrer über diese Interdependenz Bescheid wissen und innerhalb der Lehrerbildung auf eine solche Unterrichtsorganisation vorbereitet werden (was gegenwärtig nicht ausreichend geschieht) und
  • daß die Schule hinsichtlich ihrer Organisation, ihres Unterrichtsverständnisses wie auch der rechtlichen Absicherung der Lehrerkompetenz ihm die Handhabe gibt, erzieherisch wirken zu können.

 

Wenn heute, wie oft geklagt wird, sich viele Lehrer hinter ihrer Sachautorität verschanzen, um überhaupt einigermaßen Kontrolle über die Vorgänge in ihrer Klasse gewinnen zu können, sich also deutlich unter Weglassung ihrer erzieherischen Aufgabe auf die Funktion des Fachlehrers konzentrieren, dann zeigt dies deutlich mangelnde Voraussetzungen für einen „erziehenden Unterricht“ an.
Alle diese Fragen lassen sich in einer zentralen zusammenfassen: Ist - und wenn ja, wie - „erziehender Unterricht“ (27) möglich, wie muß er beschaffen sein, und wie müssen Lehrer ausgebildet werden, damit sie erziehenden Unterricht zu organisieren in der Lage sind?

Erziehung (im weiteren Sinne) im Raum der Schule hat drei wichtige Teilbereiche:

  • Unterricht soll so organisiert sein, daß Erziehung im Bereich von Arbeitsmethoden und „Arbeitstugenden“ stattfindet und die Selbständigkeit des Schülers im selbsttätigen Lernen dadurch kontinuierlich erweitert wird;
  • Unterricht soll so organisiert werden, daß Erziehung im Bereich sozialer Tugenden möglich wird;

Unterricht soll so organisiert sein, daß seine Atmosphäre, über die Gestaltung des Unterrichtsverlaufs vermittelt, zur Stärkung des Selbstwertgefühls des Schülers, zur Herstellung einer ausgeglichenen Identitätsbalance und einer angemessenen Ich-Stabilität beiträgt.

Erich E. Geißler (1983):
Allgemeine Didaktik. Stuttgart, 2.Aufl. 1983

 

Arbeitsauftrag

  • Fassen Sie die Vorstellungen Geißlers von der Lehrerrolle zusammen, stellen Sie sie dem Plenum in geeigneter Form vor und beleuchten Sie sie kritisch.
  • Für Geißler resultieren die wesentlichen Probleme des Lehrerberufs aus den Schwierigkeiten, die viele Kollegen mit der Vielfältigkeit ihrer Rolle haben. Stimmen Sie ihm zu ?
  • Können Sie Beispiele für konkrete Intrarollenkonflikte (oder sogar Interrollenkonflikte) aus Ihrer eigenen Praxis aufzeigen ?
  • Informieren Sie sich in der Literatur über die „Polyvalenzthese“

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Bauer, Kopka &. Brindt:
Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit

Der Begriff der pädagogischen Professionalität

Ein Ziel unserer Forschungsarbeit ist es, den Begriff der "pädagogischen Professionalität" zu klären und auszuschärfen. In einer früheren Arbeit (Bauer/ Burkard 1992) haben wir drei Ansätze der Professionalisierungsforschung unterschieden:

  • den kriterienbezogenen Ansatz (z.B. Schwänke 1988)
  • den historischen Ansatz (Burrage/Torstendahl 1990, Tenorth 1987)
  • den auf pädagogische Arbeitsaufgaben bezogenen Ansatz (Devaney/Sykes 1988, Lieberman 1990)

Kriterienbezogener Ansatz

Zum Kernbereich von Professionalität gehören die Kriterien Autonomie, Berufsethos, Reflexivität, Kooperation und wissenschaftliche Basis der Berufsausübung (Berufswissenschaft) sowie eine besondere Berufssprache.
Der kriterienbezogene Ansatz orientiert sich am Muster bestimmter, vollausgebildeter, modellhafter Professionen. Hierzu gehören vor allem die Ärzteschaft und die Juristen (vgl. zum folgenden ausführlicher Bauer/Burkard 1992).
Professionalität erfordert Autonomie, das heißt Entscheidungsspielräume über die eigenen Arbeitsbedingungen, über die Formen des Umgangs mit Klienten, über Maßnahmen und Empfehlungen. Autonomie braucht einen Gegenspieler, der dafür sorgt, dass Spielräume und Freiheiten nicht als Privilegien missbraucht werden. Dieser Gegenspieler ist das Berufsethos. Der Fortfall äußerer Kontrollen muss durch Selbststeuerung kompensiert werden. Und Selbststeuerung beruht auf der Bindung an überpersönliche Werte, im Falle des Pädagogen etwa die Selbständigkeit und Mündigkeit des Heranwachsenden oder, noch allgemeiner, das Wohl des Klienten.
Reflexivität und Supervision kommen als weitere Merkmale einer modernen Profession in sozialen Aufgabenfeldern hinzu. Wissen, was man tut, deutlich wahrnehmen, wie man handelt, diese Stufen der Hinwendung zum eigenen Handeln sind keineswegs alltäglich und selbstverständlich. Sie setzen vielmehr eine besondere Haltung voraus, die durch die berufliche Sozialisation gefördert werden kann.
Kooperation als weiteres Merkmal von Professionalität bezieht sich zum einen auf die Ebene der interprofessionellen Zusammenarbeit. Dazu gehört die Kooperation mit Fachleuten aus den Bereichen Forschung, Beratung, psychosoziale Dienste usw. Zum anderen bezieht sich Kooperation auf die intraprofessionelle Zusammenarbeit mit Kollegen der eigenen Berufsgruppe. Was diese betrifft, zeigen empirische Untersuchungen immer wieder, dass die Zusammenarbeit meist auf die Ebene der Unterrichtsvorbereitung beschränkt bleibt. Gegenseitige Hospitationen und Team ‑ teaching finden nur an wenigen Schulen statt (Bauer/Bussigel/Pardon/Rolff 1979, S. 113 ff, Schwänke 1988, S. 142, Roth 1994). Allerdings zeigt sich, dass dort, wo besondere Anstrengungen zur Verstärkung von Kooperation unternommen werden, sich das tatsächliche Kooperationsverhalten auch langfristig ändert (Alterinann ‑ Köster 1990, S. 110, Roth 1994).
Am umstrittensten von den genannten Kriterien dürfte bei Pädagogen der Bezug auf eine Berufswissenschaft sein, also die wissenschaftliche Basis der Berufsausübung. Während allgemein akzeptiert sein dürfte, dass Ärzte naturwissenschaftliche, insbesondere biologische und physiologische Grundkenntnisse brauchen, dürfte es für Pädagogen keinen vergleichbar unumstrittenen Bereich des Grundwissens geben.
Im Rahmen unseres empirischen Forschungsvorhabens ist dies eine der zentralen Fragen: Bestehen Verbindungen zwischen Handlungs‑ und Begründungswissen von Lehrerinnen und Lehrern und wissenschaftlichem Wissen sowie wissenschaftlichen Einstellungen und Sichtweisen? Welche Vorteile oder Nachteile haben solche Verknüpfungen von Berufswissen und wissenschaftlichem Wissen?
Aufgrund der vorliegenden empirischen Studien lässt sich begründet vermuten: Aus der Perspektive des kriterienbezogenen Ansatzes erweist sich Lehrerarbeit in den Bereichen Kooperation, Berufswissenschaft und Berufssprache als defizitär.

Historischer Ansatz

Dieser Ansatz fragt vor allem nach den Strategien, mit denen eine Berufsgruppe Konkurrenten aus dem Feld schlägt oder verdrängt und sich einen Anspruch auf bestimmte Tätigkeiten und die damit verbundenen Vorrechte sichert.
Aus der Sicht des historischen Ansatzes betrachtet, sind erziehungswissenschaftlich gebildete Pädagogen "Spätkömmlinge", die mit Angehörigen anderer Berufsgruppen (Psychologen, Sozialwissenschaftler, Gymnasiallehrer) konkurrieren müssen. Lehrer, die ihren Anspruch auf Berufsausübung nicht aus einer erziehungswissenschaftlichen Bildung ableiten, können sich zwar auf Traditionen berufen, deren Glaubwürdigkeit ist aber ins Wanken geraten. Dies gilt insbesondere für die in Deutschland übliche Beamtenlaufbahn mit dem ersten und zweiten Staatsexamen als Zugangsvoraussetzung. Staatlicherseits definierte Professionen wie der deutsche Lehrerstand sind eine historische Besonderheit und in vielen anderen Ländern entweder erst gar nicht entstanden (USA, Kanada, Niederlande, Großbritannien) oder inzwischen durch flexiblere Formen der Rekrutierung abgelöst worden (Siegrist 1990).
Wir vermuten einen Zusammenhang zwischen der (unzureichenden) Lehrerprofessionalität und dem Status der Erziehungswissenschaft im Gesamtgefüge der Wissenschaften. Dieser Status lässt sich durch die Merkmale "neu, expansiv, noch wenig anerkannt" beschreiben (vgl. hierzu Krüger/Rauschenbach 1994). Bemerkenswert ist die Zunahme der Praxisorientierung des Faches und seiner Vertreter bei stagnierenden Werten in den Bereichen theoretisch‑historische und empirische Orientierung (Baumert / Roeder 1994). Möglicherweise ist das Potential der Erziehungswissenschaft für die Lehrerbildung noch unerschlossen.

Auf Arbeitsaufgaben bezogener Ansatz

Grundlage dieses Ansatzes sind empirische Studien, in denen vorrangig folgende Fragen untersucht werden:

  • Welche Arbeitsaufgaben haben die Angehörigen einer Berufsgruppe?
  • Wie werden diese Arbeitsaufgaben bewältigt?
  • Welche Fähigkeiten sind dazu erforderlich?
  • Wie werden diese Fähigkeiten erworben und verbessert?

Eine herausragende Forschungsrichtung, die sich mit der Bewältigung eines bestimmten Typs von Arbeitsaufgaben befasst, ist der "Expertenansatz" (Bromme 1992). Der Expertenansatz fragt nach Wissenstrukturen, durch die sich Experten von Laien, erfahrene Mitglieder einer Berufsgruppe von Anfängern unterscheiden, oder er fragt nach Spitzenleistungen, die wiederholt erbracht werden.
Eine zentrale Arbeitsaufgabe, die Lehrerinnen und Lehrer bewältigen müssen, ist die Herstellung und Aufrechterhaltung einer Struktur, einer Ordnung für die aufgabenbezogenen Interaktionen in Lerngruppen. Diese Aufgabe wird als Unterrichtsführung oder "classroom management" bezeichnet (Doyle 1986). Weitere Aufgaben sind die Entwicklung des Stoffes und die Strukturierung der Unterrichtszeit (Bromme 1992, S. 77 ff.).
Im folgenden entwickeln wir einen Begriff der pädagogischen Professionalität, der Elemente des kriterienbezogenen Ansatzes, der auf Arbeitsaufgaben bezogenen Forschung und des Expertenmodells miteinander verbindet. Methodisch gehen wir so vor, dass wir erfahrene Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Arbeitsaufgaben gut bewältigen, mit Lehrerinnen und Lehrern vergleichen, die Weniger erfolgreich im Umgang mit Arbeitsaufgaben sind.
Bevor wir ein Ergebnis unserer Arbeit, eine vorläufige Definition von pädagogischer Professionalität darstellen, müssen wir zwei Begriffe klären, die in unsere Definition als wesentliche Komponenten Eingang finden.

Das pädagogische Handlungsrepertoire

Damit sind Handlungsmuster gemeint, die auf hoch verdichteten Wissensbeständen basieren, also während der Handlungsausführung nicht vollständig ins Bewusstsein gelangen. Die Handlungsabfolgen sind geübt und wirken auf den Betrachter gekonnt.
Das Handlungsrepertoire ist individuell und führt zu einem persönlichen Stil. Pädagogen, die sehr expressiv vor der Lerngruppe auftreten, verfügen über ein gestisches und mimisches Ausdrucksrepertoire, mit dem sie die Aufmerksamkeit der Lernenden wecken und aufrechterhalten können. Andere haben ein ausgefeiltes Repertoire im Umgang mit wechselnden sozialen Situationen und Unterrichtsformen entwickelt. Und eine dritte Gruppe gestaltet die physikalische Umgebung der Lerngruppe zu einer anregenden und zugleich die Konzentration fördernden Lernumwelt. Die wichtigsten Dimensionen des Handlungsrepertoires werden in den folgenden Kapiteln noch beschrieben und durch Fallbeispiele belegt.

Das professionelle Selbst

Das professionelle Selbst ist den übrigen Komponenten der Professionalität übergeordnet. Es hat eine strukturierende und integrierende Funktion, ohne die jede noch so differenzierte Teilkompetenz methodischer oder technischer Art aufgesetzt wirken würde. Was ist dieses berufliche Selbst? Wie arbeitet es? Welche Aufgaben nimmt es wahr? Wie entsteht es?
Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir Theorien des Selbst aus den Bereichen Kybernetik (Vester 1986), Neurowissenschaften (Edelman 1995) und Psychologie (Csikzentmihalyi 1995) herangezogen.
Neurowissenschaftlich betrachtet, ist das Selbst eine Funktion des höheren Bewusstseins. Höheres Bewusstsein entsteht, wenn im Zentralnervensystem aktuelle Informationen mit Gedächtnisinhalten verknüpft und unter emotionaler Beteiligung bewertet werden. Wahrscheinlich ist das höhere Bewusstsein aus dem primären Bewusstsein hervorgegangen. Das primäre Bewusstsein steuert die Aufmerksamkeit, indem es einlaufende Informationen mit Zielen und Handlungsentwürfen verknüpft und durch vergleichende Bewertung Auswahlentscheidungen trifft. Vereinfacht gesagt: "Wir sind, was wir beachten" (Csikzentmihalyi 1995, S.284).
Ein professionelles Bewusstsein ist demzufolge die integrierende und auswählende Instanz, die die Aufmerksamkeit eines Pädagogen so steuert, dass Informationen verarbeitet und Handlungsmuster ausgewählt werden, die im Hinblick auf pädagogische Ziele relevant sind. Es ist sinnvoll, zwischen einem primären und einem höheren professionellen Bewußtsein und unterscheiden.
Das primäre professionelle Bewußtsein entsteht aus der pädagogischen Interaktion und begleitet die Aufgabenerfüllung. Das höhere professionelle Bewußtsein entsteht durch die Verarbeitung von Erinnerungen. Es setzt Reflexion voraus und ist in hohem Maße sprachgebunden. Ein professionelles Selbst entsteht aus dem höheren professionellen Bewußtsein. Wenn diese Annahmen zutreffen, ergeben sich einige weitreichende praktische und forschungsmethodische Konsequenzen.
Forschungsmethodisch ergibt sich die Konsequenz, dass das professionelle Selbst, da es Teil des Bewusstseins ist, der Reflexion zugänglich ist und beispielsweise durch Interviews, die Auswertung von Tagebuchmaterial usw. erforscht werden kann.
Praktisch ergibt sich die Konsequenz, dass die Entwicklung des professionellen Selbst durch das Individuum kontrolliert und höchstwahrscheinlich durch Maßnahmen der Fortbildung gefördert werden kann.
Die vorrangige Aufgabe des professionellen Selbst besteht ‑ der Theorie zufolge ‑darin, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Dies setzt eine klare interne pädagogische Zielorientierung voraus. Und es setzt voraus, dass einlaufende Hinweise und Informationen im Hinblick auf pädagogische Handlungsmöglichkeiten wirksam kategorisiert werden können. Nach diesem Exkurs folgt nun unsere Definition pädagogischer Professionalität:

Pädagogisch professionell handelt eine Person, die gezielt ein berufliches Selbst aufbaut das sich an berufstypischen Werten orientiert, sich eines umfassenden pädagogischen Handlungsrepertoires zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben sicher ist, sich mit sich und anderen Angehörigen der Berufsgruppe Pädagogen in einer nicht‑alltäglichen Berufssprache verständigt, ihre Handlungen unter Bezug auf eine Berufswissenschaft begründen kann und persönlich die Verantwortung für Handlungsfolgen in ihrem Einflussbereich übernimmt.

Die nachstehende Abbildung soll die Komponenten unserer Definition verdeutlichen und eine erste Andeutung der Komplexität möglicher Beziehungen zwischen dem professionellen Selbst und den Bereichen, in denen es agiert und lernt, liefern.

Lehrerperson

Bei den Richtungspfeilen in der vorstehenden Abbildung haben wir versucht, eine Hauptrichtung anzugeben. Auch bei einseitig gerichteten Pfeilen kann eine Rückkoppelung bestehen. Hervorgehoben werden in der Grafik aber nicht die Rückkoppelungsbeziehungen, sondern die Richtung der Aktivität. Nur wo die Aktivitäten in etwa gleicher Intensität in beide Richtungen weisen, haben wir Doppelpfeile verwendet.
Die im Zentrum dunkel unterlegten Komponenten sind interne Bereiche oder Dimensionen, die dort hellen Komponenten extern und Teil der Umgebungskultur von Lehrerinnen und Lehrern.
Das Handlungsrepertoire kann direkt, ohne Kontrolle des Selbst, zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben abgerufen werden. In diesem Fall handelt es sich um Automatismen, die dem Selbst unmittelbar nicht oder nicht mehr zugänglich sind, wohl aber bewusst gemacht werden können und dann ‑ unter günstigen Rahmenbedingungen ‑ auch kontrolliert werden können.
Wir haben in diese Definition die wichtigsten Komponenten des oben aus der Literatur entnommenen Professionsbegriffs einbezogen. Neu an unserer Definition ist die besondere Bedeutung eines beruflichen Selbst, das im Zentrum steht und die übrigen Komponenten organisiert. Neu ist auch die Hervorhebung des pädagogischen Handlungsrepertoires.

Bauer, Kopka &. Brindt (1999):
Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit, Weinheim S. 10ff.

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Hermann Giesecke: Das Ende der Erziehung

Die entpädagogisierte Schule

 

Die Schule in ihrer gegenwärtigen Gestalt verdankt ihre Existenz jenen Voraussetzungen der bürgerlichen Erziehung, die nun ihrem historischen Ende entgegengehen. Dies ist vermutlich der wesentliche Grund dafür, dass sie in einer tiefen Krise ihres Selbstverständnisses steckt, die die Reformmaßnahmen der siebziger Jahre eher verstärkt als gemildert haben. Die Klagen über undiszipliniertes, ja kollektiv‑infantiles Verhalten auch älterer Schüler, über fehlende Konzentrationsfähigkeit und motorische Unruhe, über Lärm, Unlust und Langeweile sind zu häufig und auch zu sehr übereinstimmend, als dass sie als Gejammer eines Berufsstandes abgetan werden könnten. Dies schlägt auf die Berufszufriedenheit vieler Lehrer zurück in Gestalt von oft krank machenden Zweifeln an der eigenen Qualifikation wie am Sinn der eigenen Profession.

Je weniger öffentliche Übereinstimmung darüber herrscht, wozu Schule eigentlich da ist und wozu nicht, desto mehr werden ihr Aufgaben aufgebürdet oder von ihr an sich gerissen, die mit ihrem ursprünglichen Zweck nichts mehr zu tun haben, bloß weil sie an der eigentlich zuständigen Stelle, zum Beispiel im Elternhaus, nicht erledigt werden.

Zudem erstickt die Schule in Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden in der Annahme, die staatliche Weisung könne hier irgendwelchen Übeln abhelfen. Wenn die Zahl der Verkehrstoten steigt oder die Wehrgesinnung sinkt oder die Friedensdiskussion in der Öffentlichkeit zu "einseitig" erfolgt, wird nach Erlassen gerufen, die die Schulmeister anhalten sollen, das Nötige unverzüglich beizubringen.

Die ursprüngliche Bildungsfunktion der Schule wird auch durch Verrechtlichung überdeckt. Besonders deutlich wird dies am Notenverrechnungssystem im Zusammenhang mit dem Numerus clausus. Hier wird sozusagen aus Äpfeln, Birnen, Pflaumen usw. ein Obstdurchschnitt errechnet. Wenn aber die einzelnen Schulfächer dazu dienen sollen, die Fähigkeiten wie auch die Leistungsgrenzen der Schüler erfahrbar zu machen, dann verlieren solche Verrechnungen ihren Sinn. Das gilt aber auch dann, wenn die Fächer weitgehend wählbar werden wie in der gymnasialen Oberstufe, weil dann die tatsächlich oder vermeintlich "schwachen" Fächer auch dann abgewählt werden können, wenn eine prüfende Auseinandersetzung mit ihnen gar nicht erst stattgefunden hat.

Die Bildungsfunktion der Schule ist ferner weitgehend überlagert worden durch eine Bewahrungsfunktion (custodiale Funktion): Kinder werden vormittags und teilweise auch nachmittags den Familien und der Öffentlichkeit entzogen, so dass die Erwachsenen ihren beruflichen und sonstigen Pflichten nachkommen können. In dieser Funktion ist die Schule natürlich vorwiegend an der Gegenwart der Kinder interessiert, weniger an deren Zukunft, und so suchen moderne didaktischmethodische Arrangements vergessen zu machen, dass hier "Schule" stattfindet, indem sie den Kindern den Aufenthalt möglichst attraktiv zu machen trachten, unentwegt nach deren "Bedürfnissen" forschen und dabei am liebsten die gängige Fernsehunterhaltung kopieren würden. Nun ist aber gerade die custodiale Funktion eine überflüssige Pädagogisierung, insofern ja "verwahrt" werden muss, wer als unfähig gilt, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Vielleicht liegt es auch daran, dass viele Kinder die Schule als langweilig und lästig erleben und keinen Sinn darin sehen, warum sie sich dort so lange Zeit aufhalten sollen.

Unsere These ist, dass die Kinder nicht sind, als was sie uns heute in den Schulen erscheinen, sondern dass sie durch das pädagogisierte Getue in Familien und Schulen dazu gemacht werden, dass ihnen erwachsenes Verhalten nicht abverlangt, sondern verwehrt wird. Wozu also ist Schule noch da, wenn Gegenwart und nicht Zukunft die dominante Zeitperspektive ist und wenn die Kinder ihre Zukunft verinnerlichen müssen? Dazu abschließend einige Thesen.

 

Wozu ist Schule nötig?

Zunächst muss die Schule sich wieder besinnen auf ihre eigentümliche Aufgabe im gegenwärtigen Sozialisationsprozess, also auf das, was nur sie dabei leisten kann und was weder die Familie noch die Massenkommunikation noch die Gleichaltrigen anzubieten vermögen. Alle übrigen Erziehungs‑ beziehungsweise Sozialisationsfelder entwickeln wichtige Fähigkeiten des Kindes, aber nur in der Schule können sich systematische, "sinnvolle" Vorstellungen über die wesentlichen Dimensionen der gesellschaftlichen und kulturellen Existenz ‑ über Politik, Wirtschaft, Kultur, Natur ‑ aufbauen. Die Aufgabe der Schule wäre also, durch "wechselseitige Erschließung" (Klafki) Kind und Welt in einen produktiven Austausch zu verwickeln, gerade in der massenmedialen Über‑ und deshalb auch Desinformiertheit kategoriale Schneisen anzubieten, um die herum sich angemessene Weltvorstellungen aufbauen lassen. Das kann nur die Schule leisten, und zwar durch das ihr eigentümliche Verfahren des systematischen, planmäßigen Unterrichts. Nur ein solcher Unterricht legitimiert eine Institution wie die Schule, die Menschen für eine bestimmte Zeit aus ihren sonstigen Lebenszusammenhängen herauszulösen (was für die Universität sinngemäß auch gilt). Insofern ist die immer wieder erhobene Forderung nach einer besseren Verbindung der Schule mit dem Leben problematisch, soweit sie mehr meint als eine didaktische Strategie. Zum Wesen des Unterrichts gehört, dass Menschen sich zu diesem Zweck in eine bestimmte Sozialsituation begeben, die so im sonstigen gesellschaftlichen Leben nicht anzutreffen ist.

Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen ermöglichen heute schon Kindern eine im Vergleich zu früheren Zeiten unvorstellbare Informiertheit. Aber sie liefern die "Fibel" nicht mit, mit deren Hilfe diese Informationen und Bewertungen zu einem kategorial erschlossenen Weltverständnis führen können. Ohne eine solche Ausbildung der Vorstellungskraft sind die Informationen und Deutungsstrukturen der Massenmedien nicht sinnlos, aber sie verbleiben auf der vordergründigen Ebene undurchschauter Sozialisation in Form von Anpassung an wechselnde Moden und herrschende Meinungen. Auch Schule wäre nur Teil eines solchen Sozialisationsprozesses, wenn sie nicht aufklärenden Unterricht zu ihrer eigentümlichen Aufgabe erklärte. Damit ist über das erforderliche didaktisch‑methodische Arrangement noch gar nichts entschieden. Der lehrerzentrierte Unterricht kann dazu ebenso gehören wie eine Theateraufführung oder die Reparatur von Motorrädern.

 

Bildung statt Erziehung

Ein in diesem Sinne auf die Ausbildung von Fähigkeiten zielender Unterricht muss jeglichen "Erziehungsauftrag" zurückweisen, der nicht aus den Bedingungen des Unterrichts notwendigerweise erwächst. Die Schule ist zum Beispiel nicht der Ort eines allgemeinen "sozialen Lernens" ‑ dafür sind die Familie und die Gleichaltrigen da ‑, sondern der Ort, wo man lernt, gemeinsam mit anderen geistige Arbeit ‑ und nicht irgend etwas ‑ zu betreiben. Die Schule kann nur insofern erziehen, als sie die dafür nötigen Tugenden und Verhaltensweisen abverlangt. Damit Unterricht gelingen kann, ist ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, an Kooperationsfähigkeit, an Aufmerksamkeit und Artikulationsfähigkeit nötig. Diese Fähigkeiten und Verhaltensweisen muss die Schule mit ausbilden, aber darüber hinaus hat sie keine Legitimation mehr, zu irgend etwas zu erziehen; geschieht dies dennoch, so führt das nur zu einer mehr oder weniger willkürlichen, den jeweiligen Machtverhältnissen unterworfenen Politisierung, die den Konsens einer allen weltanschaulichen und demokratisch‑politischen Variationen verpflichteten Institution gefährden müsste. Insofern lernt man in der Schule für die Schule, für das Leben nur insoweit, als das Gelernte dort auch benötigt wird und die erworbenen Vorstellungen auch auf andere Situationen übertragbar bleiben. Unser Plädoyer zielt also auf eine Reduktion und Konzentration des schulischen Anspruchs. Die Schule kann nur noch ein Teil des kindlichen Lebens sein, vielleicht nicht einmal der wichtigste, insofern die Sozialisation außerhalb der Schule nicht hintergangen werden kann.

 

Entrechtlichung des Unterrichts

Der Bildungsauftrag der Schule kann nur insoweit wieder zur Geltung kommen, als der Unterricht entrechtlicht wird. Da die Verrechtlichung sich insbesondere an den sozialen Folgen von Schulnoten und Zeugnissen festmacht, ist sie nachhaltig wohl nur dadurch zu verringern, dass die Automatik von Schulabschluss und Berechtigung aufgehoben wird. Das gilt vor allem für die Ebene des Abiturs. Das Abitur darf höchstens noch eine Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums sein, keine automatische Berechtigung mehr dafür. In diesem Falle wären die Zensuren ohne unmittelbare soziale Folgen und könnten wieder stärker eine pädagogische Funktion bekommen (zum Beispiel Maßstab für den individuellen Lernfortschritt sein). Kein potentieller Arbeitgeber, der die Sache durchschaut hat, macht heute die Schulnoten zum Hauptkriterium einer Einstellung, das gilt von der Hauptschule bis hin zu akademischen Abschlüssen. Je weniger nämlich Schule und Hochschule mit ihren Zeugnissen die Zukunft ihrer Absolventen im Blick haben können, um so mehr neigen sie dazu, deren Gegenwart etwas Gutes zu tun, zum Beispiel durch relativ "günstige" Beurteilungen. Wie schon gesagt, ist unser Berechtigungswesen eng verbunden mit jener überlieferten Vorstellung des an der Zukunft des Kindes festgemachten sozialen Auf‑ und Abstiegs. Statt eines solchen Systems von "Schullaufbahnen" brauchen wir ein flexibles Bildungsangebot, das nicht weite Zukunftsperspektiven versteinert, sondern kürzere attraktiv macht, die der zunehmenden Gegenwartsorientierung entgegenkommen. Die überlieferten relativ frühen und kaum wieder rückgängig zu machenden Bildungsgangentscheidungen (zum Beispiel nach der Grundschule Übergang aufs Gymnasium) sind historisch überholt.

Ebenso historisch überholt ist die lange Fixierung des Jugendalters auf Schule und Hochschule. Schul‑ und Studienzeiten sollten im allgemeinen verkürzt, dafür spätere "schulische Phasen" während der Arbeitszeit attraktiv gemacht werden. Die langen Schulzeiten tragen nicht unwesentlich zur pädagogischen Infantilisierung des Jugendalters bei, und je länger die Schule dauert, um so weniger attraktiv kann sie sein, sie hat dann einfach immer weniger zu bieten für die Zeit, die sie beansprucht. Vielleicht ließe sich das mildern, wenn die Schule sich stärker gegenüber ihrer Umwelt öffnen würde, wenn sie zum Beispiel Aufgaben der sozialen und kulturellen Mitgestaltung dieses Umfeldes übernähme und vor allem Personen aus diesem Umfeld ‑ Politiker, Vertreter von Organisationen, Handwerker usw. ‑ in den Unterricht hinein holte.

 

"Pädagogische Verantwortung" des Lehrers

Die tiefe Verunsicherung der Schule hat sich nicht zuletzt niedergeschlagen in einer Verunsicherung des Umgangs zwischen Lehrern und Schülern. Die Skala der Beziehungen reicht von traditionell‑autoritär bis kumpelhaft. Wenn niemand mehr so recht weiß, wozu die Schule da ist, wird auch unklar, wie man warum miteinander in ihr umgehen soll. Gerät jedoch wieder in den Blick, dass es zentrale Aufgabe der Schule ist, durch Unterricht wichtige Fähigkeiten der Schüler zur Entfaltung zu bringen, dann vertritt der Lehrer dem Schüler gegenüber zunächst einmal eine "Sache", die er ihm beibringen will. Das dafür nötige didaktische Handwerk sollte er möglichst gut beherrschen, ohne dabei Fernsehen und BRAVO imitieren zu wollen. Er sollte seinen professionellen Ehrgeiz darin sehen, Ängstliche mutiger zu machen, Schwächere zu ermuntern und zu fördern und vor den Stärkeren zu schützen. Im übrigen sollte er eine Kommunikationsfähigkeit zeigen, in der auch Humor und Nachsicht einen Platz haben. Fachlich‑didaktische Kompetenz plus wenigstens mittlere Kommunikationsfähigkeit ‑das ist zunächst einmal die Grundlage des "pädagogischen Bezugs", die der Lehrer dem Schüler vorzugeben hat, damit er sich daran orientieren kann. Weder die Sache noch die Kompetenz ihrer didaktischen Präsentation können dem Schüler zur Disposition stehen und also auch nicht die für den Umgang mit der Sache nötigen Verhaltensweisen. jeder Erwachsene, der von anderen etwas lernen will, weiß das und akzeptiert die entsprechenden Regeln. Sogenannte "Disziplinschwierigkeiten" zu dulden oder überhaupt diese Regeln den Schülern zur Disposition zu stellen ist also kein Zeichen von Großzügigkeit oder von demokratischer Haltung, sondern von Vorenthaltung des schon möglichen Erwachsenenhabitus, von überflüssiger Pädagogisierung.

Aber wie bei den Eltern, so hat auch die "pädagogische Verantwortung" des Lehrers ihre Grenze. Er kann zum Beispiel die fehlende Bereitschaft des Schülers zur Mitarbeit letzten Endes nicht unterlaufen, obwohl ihm möglicherweise die Mär aufgebunden wurde, man könne jeden Schüler motivieren, wenn man es nur richtig verstehe. Fraglich ist vielmehr schon, ob man überhaupt planmäßig und gezielt einen Menschen motivieren kann, oder ob es nicht vielmehr darauf ankommt, vorhandene Motivationen nicht zu zerstören und im übrigen ein Klima zu schaffen, in dem vielleicht neue Motivierungen entstehen können. Die Welle der Pädagogisierung hat die "Machbarkeit" von Lernen und Bildung in sehr unrealistischer Weise propagiert. Hier müssen die Verantwortlichkeiten wieder klar verteilt werden. Die pädagogische Verantwortung des Lehrers hat den Willen zur Mitarbeit zur Voraussetzung, ganz unabhängig vom Maße der Lernfähigkeit. Jede Lernfähigkeit kann gefördert und weiterentwickelt werden, aber für den Willen dazu ist nicht mehr der Lehrer, sondern der Schüler verantwortlich beziehungsweise ‑je nach Alter ‑ seine Eltern. Dass es immer am Lehrer liegt, wenn die Schüler nicht lernen wollen, ist einerseits Signal für ein Abschieben der Verantwortung, andererseits ein Gebräu, von dem sich die Pädagogisierung nährt.

Eine weitere Grenze der "pädagogischen Verantwortung" liegt darin, dass der Lehrer nicht Mitglied der Familie seiner Schüler ist und infolgedessen weder die Pflicht noch das Recht hat, die ganze Persönlichkeit seiner Schüler "in den Griff zu nehmen". Weder das Seelenleben des Kindes noch überhaupt der Kern seiner Persönlichkeit gehen ihn etwas an. Gestörte Kinder, die vielleicht eine Therapie brauchen, kann er nicht selbst therapieren. Weder die Familie noch die Schule ist eine therapeutische Institution. Zu den Persönlichkeitsrechten der Schüler gehört auch ihre unterhalb der formellen Unterrichtssituation verlaufende "Subkultur" mit ihrem eigenen Jargon und mit eigenen Ritualen; der Lehrer sollte sie weder durch psychologische Tricks in die Hand zu bekommen versuchen noch sich ihr anbiedern. Zum

Anbiedern" gehört auch, diese informelle soziale Dimension zum Gegenstand des Unterrichts zu machen in der Hoffnung, daß dies "motivieren" könne. Solche Hoffnungen trügen fast immer, und zwar vor allem deshalb, weil die Schüler von der Schule etwas anderes, irgendwie "Wichtiges" erwarten, was sie sich gerade nicht selbst beibringen können. Die Schule nimmt die Schüler nicht zuletzt dadurch ernst, dass sie auch die kulturelle Distanz deutlich macht, die zwischen der Subkultur und ihren eigenen Ansprüchen besteht.

 

"Wahrheit" und "Richtigkeit" als regulative Ideen

Eine sehr problematische Folge des pädagogisierten Denkens ist, wie wir sahen, dass der "Eigenwert" der Sachverhalte aus dem Blick geraten ist zugunsten ihrer Verwertbarkeit beziehungsweise ihrer sozialen Instrumentalisierung. Dies ist ein Problem allen Lehrens und Unterrichtens, weil ja die jeweilige "Sache", um verstanden werden können, für das Bewusstsein der Schüler beziehungsweise Studenten umstrukturiert, didaktisch aufbereitet werden muss. Im Akt der Vermittlung ändert eine Sache ihre Struktur, weil sie mit der Erfahrung des Schülers (zum Beispiel mit seinem bisherigen Wissen) eine Verbindung eingehen muss. Es gibt hier gewissermaßen "Transportverluste". Das Problem gab es auch im Rahmen der alten Bildungstheorie. Aber dort war die Didaktik der Versuch, die Lehr- und Lernbarkeit in der Sache selbst aufzuspüren, in ihrer vereinfachten Grundstruktur oder in ihren exemplarischen Teilen oder in phänomenologischen Reduktionen. Um etwa komplizierte Maschinen begreifbar zu machen, wurde versucht, die notwendigen Elemente von Maschinen überhaupt zu ermitteln, um von daher das Komplexe als Variation des Einfachen erklären zu können.

Die modernen Curriculum‑Konstruktionen und vor allem kommunikativ beziehungsweise interaktionistisch orientierte didaktische Konzepte haben jedoch diese Art der didaktischen Analyse im Prinzip verlassen. Die kommunikativ orientierten Konzepte verweisen etwa nicht zu Unrecht darauf, dass zumindest bei all jenen "Sachen", die einer Bewertung unterliegen, weil sie für das Leben der Menschen von mehr oder weniger großer Bedeutung sind, diese Bewertungen in die Definition der Sache eingehen, über die dann in der Familie oder Schule kommuniziert wird. Diejenigen aber, die über diese Sache so kommunizieren, seien außerstande, jenseits der Kommunikation einen objektiven Maßstab ‑ also die "Wahrheit" ‑zu finden. Da andererseits aber jede Definition der Sache gleichberechtigt sei ‑ es sei denn, jemand wie der Lehrer habe die Macht, seine Definition durchzusetzen (und wer will einen solchen Makel schon auf sich laden) ‑, sei die Sache gleichsam nur noch ein Thema, das den Anlass für eine Kommunikation bildet, in der es nicht mehr um die Suche nach "Wahrheit" oder "Richtigkeit" gehe, sondern um die Beziehungsdimension, wie nämlich sozio ‑emotional mit den Ansichten der anderen umgegangen wird (z. B. autoritär oder tolerant, teilnehmend oder ablehnend usw.).
Nun gibt es sicher soziale Orte, an denen diese Art des miteinander Redens und Denkens ihre Berechtigung hat. Die Familie zum Beispiel ist keine Schulstube, und sich mit der je subjektiven "Wahrheit" der anderen (nicht zuletzt auch der Kinder) auseinander zusetzen, ist zweifellos wichtig. In politischen Versammlungen und bei Gesprächen im Freundeskreis dürfte es ähnlich sein. Aber jeder, der spricht, glaubt an "seine" Wahrheit beziehungsweise Richtigkeit ‑ falls er die anderen nicht täuscht. Offensichtlich kann niemand auf eine solche regulative Idee verzichten, auch wenn er zum Beispiel aus Höflichkeit "seine" Wahrheit nicht durchsetzen will.

Aber Schule und Hochschule bedürfen dieser regulativen Idee zu ihrer institutionellen Legitimation. Wenn zum Beispiel die Schule nicht mehr den Anspruch erhebt, in ihrem Unterricht herauszufinden, "Wie es wirklich ist", dann kann man Schülern nicht mehr weismachen, dass Schule für sie von Bedeutung sei. Sich über etwas angeregt unterhalten kann man auch anderswo. Dass selbst die Wissenschaft Wahrheit und Richtigkeit immer nur annäherungsweise erreichen kann, ist kein Einwand, denn ohne eine solche Idee würde alles Denken in der bornierten Unmittelbarkeit von Kommunikationen stecken bleiben. Schule ist der soziale Ort und Unterricht das dabei nötige Verfahren, diese Borniertheit zu durchbrechen, indem Kommunikationen verpflichtet werden auf eine Idee, die außerhalb ihrer Grenzen liegt. Eine Schule, die dies aus dem Blick verliert und statt dessen die Kinder verwickelt lässt in ihrem gewohnten Denken, Reden und Meinen, pädagogisiert sie nur und enthält ihnen einen Anspruch vor, der sie ein Stück erwachsen machen könnte. Die unterrichtliche Autorität des Lehrers erwächst also nicht nur aus seiner fachlichen Kompetenz, sondern auch daraus, dass er diese regulativen Ideen geltend macht.

Nun hat aber der Unterricht nicht nur eine fachliche Dimension, sondern ‑ wie bereits erwähnt ‑ auch eine normative. In allen Fällen, wo unterschiedliche Bewertungen von Sachverhalten möglich sind, nimmt der Lehrer eine andere Rolle ein. Über Bewertungen gibt es unterschiedliche Meinungen, und diese Meinungen beruhen auf unterschiedlichen Erfahrungen. Die Erfahrungen von Menschen sind aber grundsätzlich gleichberechtigt, die des Schülers sind nicht "wertloser" oder "schlechter" als die des Lehrers, sondern nur anders. Der Respekt vor anderen Meinungen ist also der Respekt vor anderen Erfahrungen und das heißt: vor einem anderen gelebten Leben. Auf dieser Ebene gibt es also von der Sachlage her ‑ und nicht, weil der Lehrer es "aus pädago­gischen Gründen" gewährt ‑ Gleichberechtigung zwischen Schülern und Lehrern. Aber im Unterschied zur Sozialsituation der Familie geht es in der Schule nicht um einen privaten Meinungsaustausch, vielmehr steht hier der gleichberechtigte Austausch von Erfahrungen ebenfalls unter einer die unmittelbare Kommunikation transzendierenden Idee, nämlich der Idee des "richtigen gemeinsamen Lebens". Die individuelle Erfahrung wird eingebracht mit dem Ziel, sie durch den Austausch oder auch die Konfrontation mit anderen Erfahrungen weiterzuentwickeln, sie zu differenzieren und zu präzisieren; insoweit gehört dieser Prozess zum Bildungsauftrag der Schule. Darüber hinaus aber geht es um die Suche nach Lösungen für das Gemeinsame des weiteren Zusammen­lebens.
Diese objektivierende Perspektive muss der Lehrer ein­bringen, um zu verhindern, dass es bei der unverbindlichen Privatheit eines Meinungsaustausches bleibt. Schulischer Unterricht ist also in verschiedener Hinsicht gebunden an "Ansprüche des Objektiven": Sachlich an die regulativen Ideen von "Wahrheit" und "Richtigkeit" und normativ an die regulative Idee des "richtigen gemeinsamen Lebens". Nur insoweit der Unterricht sich diesen Ideen unterwirft, kann die Schule etwas Eigentümliches zur Entfaltung der Fähigkeiten ihrer Schüler beitragen. Alles andere machen die Familien, die Gleichaltrigen und die Massenmedien mindestens genauso gut.

 

Fazit

Kinder müssen ihre Zukunft schon früh selbst verantworten, sie also verinnerlichen. Diese Tatsache bricht die Macht der Erwachsenen als Erzieher. Daraus muss sich ein neuer Umgang zwischen den Generationen in der Familie ergeben, aber auch eine Neubesinnung über die Aufgaben der Schule. Vor allem muss den Kindern ihre Verantwortung auch tatsächlich entgegen den Tendenzen einer allumfassend Pädagogisierung eingeräumt werden. Das gilt nicht zuletzt auch für die Schulleistungen. Ganz gleich, wie gut oder schlecht die Schule erscheinen mag, aus der Perspektive der Schüler ist sie dazu da, in einem begrenzten, aber wichtigen Bereich ihre Fähigkeiten zu entdecken, damit sich daraus eine Perspektive des künftigen Lebens entwickeln lässt.

Zur Entdeckung der Fähigkeiten gehört aber auch die Entdeckung der Grenzen, und mit beidem muss man leben lernen, beides zusammen erst lässt eine Perspektive für ein selbstverantwortetes Leben entstehen. Kinder haben heute auch außerhalb der Schule eine Fülle von Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Mit dem, was sie daraus machen, müssen sie auch existieren, ohne dass sie dafür andere ‑ zum Beispiel die Eltern ‑ haftbar machen können.

Erziehen heißt immer noch in erster Linie unterstützen und ermutigen, aber immer weniger, auch die Verantwortung für den Erfolg zu übernehmen. Die Kinder wollen nicht nur früh erwachsen sein, sie müssen es auch in einer Zeit, die die Mauern eingerissen hat, die ihre Kindlichkeit früher umgaben und schützten. So zu tun, als sei das anders ‑ das eben ist Pädagogisierung. Wir sollten die Kinder erwachsen sein lassen, ihnen die Verantwortung dafür so früh wie möglich übertragen und ihnen bei den daraus resultierenden Schwierigkeiten unsere Hilfe anbieten.

Giesecke, H. (1996): Das Ende der Erziehung.
Klett – Cotta, Stuttgart, S. 141 ff.

Hans Christian Thalmann: Den Schulalltag bestehen.
Psychohygiene des Lehrerberufes.

 

Ein Fall

Es handelt sich dabei um die Unterrichtsbeobachtungen zweier Studentinnen bei einer Junglehrerin. Elke B., die, da sie mit den Studentinnen befreundet ist, in dem Bericht mit ihrem Vornamen Elke erscheint. Berichtet wird über eine Geschichtsstunde in einer Hauptschulklasse.

„Zu Beginn der Stunde teilt Elke einen Arbeitsbogen aus, den die Schüler in Partnerarbeit ausfüllen sollen. Der Inhalt scheint diese nicht zu interessieren, sie bestürmen Elke nur mit formalen Fragen: ’Welche Farbe sollen wir nehmen? Sollen wir Linien ziehen? Wie lange haben wir Zeit?’ Sie sind es offensichtlich gewohnt, nach den Befehlen des Lehrers Arbeitsaufträge auszuführen, und verlangen entsprechend, daß der Lehrer genau vorausbestimmt, was sie tun sollen.
Elke erfüllt diese Erwartungen jedoch nur teilweise. Schon am Anfang verteilt sie zunächst das falsche Arbeitsblatt. Sie ist unsicher, kann aus Nervosität  die Stelle im Geschichtsbuch, die die Schüler als Hilfe verwenden sollen, nicht finden und gibt unangemessene Arbeitsaufträge. Daraufhin entsteht mehr und mehr Unruhe in der Klasse. Auf die aggressiven Fragen der Schüler ‘Was sollen wir den machen?’ reagiert Elke mit der Antwort:’ Überlegt doch selbst’... .
Nach und nach nützen immer mehr Schüler den von Elke gewählten Freiraum und ihre Unsicherheit aus und entwickeln Taktiken, um den Unterricht gezielt zu boykottieren. So behaupten sie plötzlich, ihre Geschichtsbücher nicht mitgebracht zu haben, weil Elke dies am Tag zuvor nicht angekündigt habe. Gleichzeitig lassen einige ihre Bücher unter der Bank verschwinden. Elke durchschaut das Spiel nicht, glaubt, sie hat es tatsächlich vergessen und geht daran, die vorhandenen Bücher zu verteilen, die jedoch dauernd wandern und zwischendurch verschwinden.
Elke wird zunehmend nervöser, scheint keinen Überblick mehr zu haben und reagiert auf den immer stärker werdenden Krach persönlich betroffen. Sie versucht, die Disziplin durch sehr laute Befehle, Ermahnungen und Drohungen wiederherzustellen. Sie duldet jetzt nicht mehr den geringsten Regelverstoß, ohne darauf einzugehen, wodurch sie immer beschäftigter und aggressiver wird und sich in weitere Widersprüche verwickelt. So verbietet sie z.B. einem Schüler das Kaugummikauen zuerst mit der Begründung, daß es der Direktor verboten habe .’Deshalb darf ich dir das nicht durchgehen lassen.’ Als der Schüler jedoch jetzt offen provozierend weiterkaut, schreit sie ihn an: „Diese ekelhafte Kaugummikauerei kann ich nicht mehr ertragen“ - und wirft ihn aus der Klasse. Während sie vorher das Verbot mit ihrer Abhängigkeit vom Schulleiter begründet hat, wird jetzt deutlich, daß sie es selbst emotional vertritt.
Als sie sich wieder beruhigt hat, appelliert sie an die Einsicht der Schüler in die Notwendigkeit einer funktionaler Disziplin . sie läßt dabei offen, daß sie selbst unter Druck steht. Ich muß doch für einen geregelten Unterricht sorgen,sonst kreige ich Ärger. Da die Schüler diese Erklärung oder Entschuldigung offensichtlich nicht verstehen und weiter laut sind, fällt Elke wieder in den autoritären Stil zurück und reagiert derart rigide und willkürlich, daß die Funktionalität der geforderten Ordnung nicht ersichtlich ist. Die Schüler scheinen sie jedoch nicht ernst zu nehmen und äffen ihr autoritäres Verhalten nach, so daß sich gegen Ende der Stunde die Situation derart eskaliert hat, daß der Unterrichtsstoff vollkommen verlorengeht. Ein Lernprozeß bei den Schülern ist sehr unwahrscheinlich. Elke verläßt die Klasse völlig erschöpft.“

 

Rollenanalyse

Dieser Bericht macht zweierlei deutlich: einmal, wie sich im Verlauf einer Unterrichtsstunde durch Unsicherheit und Verärgerung des Lehrers und durch die Disziplinlosigkeit der Schüler das Klima derartig verschlechtern kann, daß ein effektives Lernen unmöglich wird; zum anderen, daß ein Lehrer auf Dauer eine derartige Belastung psychisch nicht durchhalten kann. Es läßt sich auf Grund des Berichtes leicht vorstellen, daß die Lehrerin die nächste Unterrichtsstunde in dieser Klasse mit noch größerer Unsicherheit beginnen wird und daß die Schüler darauf mit noch größerer Feindseligkeit und Apathie reagieren werden. Ein Teufelskreis schließt sich, der Lehrern und Schülern den Unterricht zur Qual machen kann.

Aus Befragungen von Schülern wird deutlich, daß diese sich beim Lehrer folgende Verhaltensweisen wünschen: Kooperation mit den Schülern, demokratische Haltung, Freundlichkeit, Rücksichtnahme.

Eine Untersuchung von Ruppert erbrachte als Rangfolge von Lehrereigenschaften, die ihn im Schülerurteil sympathisch machen: Liebe - Güte - Wohlwollen - Frohsinn - Gerechtigkeit - Verständnis - Ordnung. Schüler erhoffen sich also einen liebevollen, hilfsbereiten, partnerschaftlichen Lehrer. Genau diese Einstellungen den Schülern gegenüber haben sehr viele Junglehrer; sie haben ihren Dienst mit der festen Absicht angetreten, sich Schülern gegenüber freundlich, partnerschaftlich, „menschlich“ zu verhalten. Gerade mit diesen Einstellungen aber erleidet der Lehrer häufig Schiffbruch. Die Schüler scheinen ein großzügigeres, weniger strafendes, schülerorientiertes  Veralten des Lehrers als Schwäche auszulegen, und sie bestrafen seine guten Absichten mit Disziplinlosigkeit. Der Lehrer reagiert darauf enttäuscht und neigt rasch dazu, mit „bewährten“ Zwangsmitteln die Disziplin wiederherzustellen. Die Aufforderung einzelner Schüler an den Lehrer „endlich einmal durchzugreifen, sich nicht alles gefallen zu lassen“, bestärkt den Lehrer dann in seiner Auffassung, daß die Schüler von ihm eher autoritäres als partnerschaftliches Verhalten erwarten, daß schulisches Lernen eher ermöglicht wird, wenn man den Schülern weniger Freiräume läßt. Der Widerspruch zwischen den Erwartungen und dem Verhalten der Schüler ist zu erklären durch deren Verunsicherung, die ein Lehrer bewirkt, wenn er kein typisches Rollenverhalten zeigt. Durch Provokationen und Disziplinlosigkeiten wollen die Schüler den Lehrer zwingen, doch die Rolle des „typischen Lehrers“ zu spielen, daß heißt, sich autoritär zu verhalten, Zwangsmittel anzuwenden.
Die Schüler haben die Schule nun einmal als Zwangssituation kennengelernt: Klassenarbeiten, Zeugnisnoten, die Frage der Versetzung und Nichtversetzung, der Numerus clausus u.a. werden vom Schüler als permanente Bedrohung empfunden, die Angst auslöst. Für diese Angst wird der Lehrer verantwortlich gemacht, in dem sich die Zwänge des Schulsystems personalisieren. Ein Lehrer, der versucht, im täglichen Umgang mit den Schülern weniger Druck auszuüben und die Selbständigkeit der Schüler anzuregen, muß diesen einerseits unglaubwürdig erscheinen, da er ja doch nur partiell die Schülerängste vermindern kann - er  ist selbst gezwungen, zu beurteilen, Klassenarbeiten zu schreiben, Noten zu geben - andererseits stellt er für die Schüler ein geeignetes Ventil dar, dem sonst vorherrschenden schulischen Druck auszuweichen, ja sich an ihm als Stellvertreter für das Schulsystem zu rächen. Durch Disziplinlosigkeit im Unterricht aber wird ein effektives  Lernen verhindert, und die Schülerleistungen sinken. Damit aber werden die schulischen und beruflichen Chancen der Schüler verringert, wofür von Eltern und Schülern wieder der Lehrer verantwortlich gemacht wird, der es nicht versteht, einen guten Unterricht zu halten. Trotz bester Absichten erlebt der Lehrer eine Kette von Mißerfolgen, die seine ursprünglichen Einstellungen und Überzeugungen in Frage stellen und ihn sehr rasch zu Verhaltensänderungen veranlassen können

Das oben dargestellte Beispiel macht deutlich, wie selbst innerhalb einer Unterrichtsstunde das ursprünglich eher partnerschaftliche Verhalten einer Lehrerin in stark autoritäres umschlägt. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis zeigt sich hier ganz konkret. Die Folge ist eine starke Verunsicherung des Lehrers, der sich aufgrund seiner ursprünglichen Einstellungen nicht mehr mit seinem eigenen - autoritären - Verhalten identifizieren kann. Damit empfindet der Lehrer seine Tätigkeit als entfremdete Arbeit. „Lehrerarbeit ist faktisch entfremdete Arbeit; den an ihn gestellten bzw. den selbst gestellten Ansprüchen kann der Lehrer gar nicht gerecht werden. Die Gründe für sein Scheitern wird er zunächst bei sich selbst suchen. Das ist aber auf lange Sicht nicht zu ertragen, so daß er sie schließlich seinen Schülern, von denen er sich enttäuscht sieht und die ‘es ja gar nicht anders haben wollen’ zuschreibt...“. Ein gegenseitiges Mißverständnis ist die Ursache für Konflikte zwischen dem Lehrer und seinen Schülern. „Die Schüler haben die guten Absichten des Lehrers nicht erkannt, der Lehrer hat die schlechten Erfahrungen der Schüler mit der Schule nicht richtig eingeschätzt... . Das Ergebnis ist gegenseitige Enttäuschung.“
Wichtige Vorbedingung dafür, daß der Lehrer an der Schule nicht verzweifelt, daß er nicht seine berechtigten Überzeugungen aufgibt, ist daher eine genaue Kenntnis der Ursachen des Verhaltens seiner Schüler; auf dieser Grundlage wird es ihm möglich sein, zwischen persönlichen und systembedingten Ursachen von Konflikten zu differenzieren und eigene Verhaltensunsicherheiten abzubauen. Hier haben - nachdem bisher überwiegend die Notwendigkeit einer Praxisorientierung betont wurde - theoretische Veranstaltungen in der Lehreraus- und -weiterbildung einen wichtigen Platz.

Thalmann, H. C. (1978): Den Schulalltag bestehen.
Psychohygiene des Lehrerberufes.
 Freiburg: Herder

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