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Unterrichten

3.1 Das Lernen lehren

Lernbiologie

- Hinweise &. Ergänzungen -

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Lernbiologie
Inhalt:
  1. Damit die Saat aufgeht
  2. Neurobiologische Erkenntnisse für die Schule

1. Damit die Saat aufgeht - ein Vortrag von G. Hüther,
gehalten auf dem Bildungskongress 2002

aufgeschrieben und kommentiert von:
von H.Beck Seminar Rottweil,
S.Ruof Seminar Heilbronn

1. Das Hirn lernt ein Leben lang

Abgrenzend von den populären Vorstellungen, dass nach Aufbau und Vernetzung der Nervenzellen des Hirns mit dem Alter eine zunehmende Degeneration erfolgt, betont Hüther die Plastizität des Hirns, die genutzte „Bahnen“ stabilisiert und nicht genutzte abbaut.
Um- und Aufbaufunktionen verhalten sich dabei nicht einfach linear (proportional). Weil eben jedes Hirn seine eigene Geschichte besitzt, sind Um- und Aufbauprozesse unberechenbar. Als selbsterhaltende, selbsterzeugende und auf sich selbst beziehende (autopoietische) Systeme sind die darin vorgehenden Prozesse nichlinear und zirkulär.
Die "Nutzungsbedingungen" werden durch die vorliegenden Umstände nur getriggert d.h. es kommt zu keinem vorher eindeutig bestimmbaren "output".

Hirnaktiv

Grundlage findet diese These in der Hebb'schen Regel: Gleichzeitige feuernde erregende Synapsen führen zur Differenzierung der Verknüpfungen.

Verschaltung

 

2. Alles Gelernte war nützlich bzw. erfolgreich

Weil die entstandenen Bahnen, Netze und Verknüpfungen sich in der Entwicklung des bestimmten Menschen bewährt haben, sind sie erfolgreich (d.h. sie sind im Sinne von evolutionär (ontogenetisch) bewährten Bahnen erfolgreich “.)
Unter Umständen ist das "Gelernte" für ein kleines Kind richtig und wichtig, die gleiche Aktivität bei einem Erwachsenen jedoch muss u. Umständen aber ganz verschieden davon gesteuert werden. Solche wichtigen, erworbenen Verhaltensweisen lassen sich beim Erwachsenen oft erkennen, wenn er "kindisch, nicht rational" reagiert.
Weil aber diese Netze in der Vergangenheit so erfolgreich waren, verhindern sie aber auch Lernen d.h. Neubahnung.

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These: 3. Lernen wird durch Erfolg verhindert ( „Hemmung durch Erfolg“)

Diese etwas provozierende These ist schon häufig in der systemischen Pädagogik bzw. Familientherapiebelegt worden und wird hier deshalb nur kurz angerissen:
Erfolgreiche Handlungen und Verhaltensweisen sind im System bewährte Verhaltensweisen und stehen sozusagen als Routinen immer bereit. Ändern sich jedoch die Problemstellungen oder das Umfeld, dann sind diese erlernten -"eingefahrenen" - Verhaltensweisen manchmal nur noch die zweitbeste Wahl.

Beispiel:

1. In einer Klasse wurden Rituale eingeführt. Das ursprüngliche Ritual hatte den Zweck - sagen wir einmal - für Ruhe zu sorgen. Sie erleben dieses Ritual aber so, als ob zur Durchführung des Rituals viel Unruhe erzeugt wird: " Die Schüler stupfen sich gegenseitig, weisen laut auf das "Leiseritual" hin, streiten, ...

2. Die Schüler erlernten erfolgreich eine Lernstrategie z.B. Rechenverfahren. Sie sind darin routiniert und können damit Aufgaben in kürzester Zeit erledigen. Sie erweitern das Verfahren und führen neue Regeln ein. Manchmal verwenden nun die Schüler die vorher erfolgreichen Regeln und scheitern dann in der Ausführung der veränderten Aufgabe.

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4. Verwirrung ermöglicht es, Neues zu lernen

Um ein "Neues Lernen" herbeizuführen, bedarf es der Verwirrung: Die Person erkennt, dass die alten Verhaltensmuster nicht mehr den Ansprüchen genügen und neue Verhaltensweisen noch nicht vorhanden sind. Dies erzeugt bei vielen Menschen Unbehagen, Ausweichverhalten, Leugnung der neuen Umstände, ...

Neurologisch gesehen, sind Nervenverknüpfungen auf folgende Arten veränderbar:      

  • der synaptische Spalt wird verringert
  • die Synapse verbreitert sich
  • es bilden sich neue Synapsen
  • hemmende Synapsen werden abgebaut

Der Mechanismus, der zur Veränderung führt, wird in der systemischen Therapie als Perturbation (Verstörung eines Systems) bezeichnet. Ursprünglich entwickelt wurde der Gedanke vom Neurobiologen Humberto Maturana vergl. Maturana/ Varela: "Der Baum der Erkenntnis".

These: "Ein Wandel ( second order) der Bahnen (Neubahnung) entsteht durch „Not“".

Herbeigeführt wird die Not durch "Verstörung":

Veränderung (Lernen) der Bahnung entsteht durch Perturbation.

  1. ist die Verstörung (Perturbation) zu gering, erfolgt eine „Notfallreaktion“ in den gewohnten Bahnen. (--> automatisierte Verhaltensweise, Adaption an das bisherige Schema)
  2. Eine Perturbation mit genügend emotionalem Gehalt kann zur Neubahnung führen.

These: "Kommt es beim Austausch des Systems mit der Umwelt zu einer Störung, zerbricht das System an dieser Störung oder es verändert seine Struktur durch Anpassung."

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Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Herausforderungen der Umwelt auf ein sehr diffiziles Gleichgewicht treffen: zu große und zu starke Belastungen, wie etwa auch Missbrauchserlebnisse, führen auch zum Abbau von neuronalen Netzen bzw. sind Ursache für Lernhemmungen.

Grenzerfahrungen und Lebenskrisen werden trotz einsetzender Stressreaktion gemeistert, wenn die Person auf die eigene Fähigkeiten vertraut oder sie die Erfahrung gemacht hat, dass andere Personen sie unterstützen. Wichtig sind dabei auch die frühkindlichen und kindlichen Erfahrungen.

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5. Die Gefühle sind der Motor des Lernens

Das Limbische System ("Fühlendes Hirn", "Säugerhirn"; tiefe Teile des Großhirns und das Zwischenhirns) ist der "Antrieb für Lernprozesse".

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These: Der Wirkmechanismus einer nichtlinearen Neubahnung erfolgt über das limbische System.

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6. Angst verhindert das Lernen von Neuem

Größe und Selbstbewertung der Angst (als Emotion) bzw. der Stressreaktion ist abhängig von den Faktoren Selbstvertrauen, Bindung, Glaube.

Die emotionale Bindung entsteht bereits im Uterus: Bei gewollter/ stressfreier Schwangerschaft ist bereits das Milieu im Uterus günstig. Es entsteht eine „lustvolle Gehirnchemie“, die die neurale Entwicklung des Fetus begünstigt, während Stresshormone zu „Notschaltungen“ führen.
Der Glaube im konstruktivistischen Sinne bezieht sich nicht nur auf die Religion, sondern auf das, was individuell für wahr/ sinnvoll gehalten wird. Der Glaube wird zur Grenze meiner Welt: „das halte ich für wahr, etwas anderes halte ich für unmöglich“. So berichtet z.B. Victor Frankl davon, dass er im KZ erlebt hatte, das einige Menschen unter den entsetzlichen Zuständen schon nach einigen Tagen starben, während andere Jahre bis zur Befreiung überlebten. Der Film "Jacob der Lügner" zeigt auf, wie Hoffnung zum Überleben führen kann.
F. Nietzsche seinerseits macht auf den Zusammenhang schon vor rund 150 Jahren aufmerksam: "Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes Wie."

Stress

Von diesen Thesen ausgehend werden die 3 „Mitbewertungsstrategien Neugier, Erwartungen und die Bewältigungsstrategien “   ins Zentrum des pädagogischen Kontextes gerückt:

Teufelskreis

Hüther argumentiert mit dem einfachen Teufelskreis:

Bewältigt die Person erfolgreich die Aufgaben/ die Herausforderung, werden im Sinne der selbstverstärkenden Systeme die dargestellten Teilelemente verstärkt. Flow bei der Bewältigung der Herausforderung kann entstehen.

Im Falle des Scheiterns jedoch, können bis zur Abhängigkeit führende Bewältigungsstrategien auftreten

  • kein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten führt zu Vermeidungsreaktionen;
  • kein Vertrauen in andere Personen, bzw. deren Bereitschaft, das sie mich unterstützen, führt zu Rückzug aus der sozialen Interaktion mit der Gefahr der Isolation;
  • ...
überlegen
Zum Überlegen :

Von psychologischer Seite ausgesehen, beschreibt Hüther hier nur „a – single - loop-learning".
Zur Veränderung von negativen Verhaltenserwartungen vergl. dagegen den Ansatz von Argyris, bzw. anderen mit „doople loop learning“.

Empirische Indizien für die Vorstellung des Teufelskreises und der Wichtigkeit frühkindlicher Anregungen bzw. Bindung sind:

  • Ratten, die in einer komplexeren Umgebung aufgezogen werden, zeigen stärkere neuronale Verknüpfungen.
  • Handling
    - Rattenjungen werden kurzfristig von der Mutter genommen, gestreichelt und wieder zurückgelegt. Diese Rattenjungen zeigen sich als robuster und intelligenter und reagieren später selbst ausgeglichener auf Belastungen ( Mütter kümmern sich intensiv um Rückkehrer). Die Rattenjungen „kennen Probleme und haben Vertrauen sie lösen zu können“ .
  • Primatenmütter, die unter „erschwerten Ernährungsbedingungen“ leiden, widmen sich weniger dem Nachwuchs. Dieser Nachwuchs bekommt eine geringere Stellung in der sozialen Rangordnung.
  •  Computertomographische Bilder des Menschen zeigen, dass Vorstellungen von Situationen über verschieden Zentren auf das limbische System wirken: „Bilder von Bildern von Bildern... wirken über den frontalen Cortex auf die Ichfunktion“.
    Der Glaube an Selbstwirksamkeit, Ziele, etc. bewirkt nachweisbare Veränderungen der Hirnphysiologie.
  •  Erfahrungsnetze stabilisieren sich beim Menschen (durch Computertomographie nachgewiesen) über einen längeren Zeitraum, dabei werden verschiedene Bezirke mehrfach verändert:
Lebensalter Hirnteil sich entwickelnde Funktionen
3 - 6 Jahre frontaler Cortex

Planung und Originalität von Handlungen;
“Ichfunktion”,..Selbstbilder,Leitbilder, Ziele, Orientierung, Motivation,Haltung,

6 - 12 Jahre occipetaler, parietaler Cortex   räumliche Vorstellung, Sprache, abstraktes Denken
ab Pubertät Frontaler Cortex soziale und emotionale Komponenten des Ichs:
Verantwortung, Empathie soziale/emotionale Kompetenz, Handlungsplanung, Folgeabschätzung, Impulskontrolle

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7. Zentrale These des Vortrags:

Sichere emotionale Bindungen ermöglicht es, die Plastizität des Hirns bis ins hohe Alter zu erhalten.

Bindung

Zur „richtigen Erziehung des Kindes sind nach den Ausführungen Hüthers Verstörungen in angemessener Form notwendig. Das Kind lernt Probleme („Unlustsituationen“) mit der Hilfe von Erwachsenen zu lösen (zu bewältigen). Dies ist Voraussetzung für Entwicklung des Hirns. Werden jedoch die Probleme des Kindes durch Erwachsene (ohne Beteiligung und Anstrengung des Kindes) gelöst, entfällt dies.

Bei gelungenem Bindungsaufbau erweisen sich vielseitigste Kontakte („neuronal gesehen“) als stimulierend und vernetzungsfördernd. Dies spiegelt sich in der afrikanische Weisheit: „Um ein Kind, aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“


Vielseitige Bindungen und Beziehungen vergrößern im Hirn die interne Vernetzung und damit das Potential, schwierigen Situationen flexibler gegenüber zu stehen.

Bindung_2

Gelingt es einem Kind nicht, Bindungen aufzubauen - bzw. die frühkindlichen Erfahrungen zu machen, die zur Bindungsfähigkeit führen - zeigt sich die unter diesen Umständen geformte, misslungene Bindung unter dem Konditional: " nur dann, wenn ...!" Es wurden also Erfahrungen gemacht, das Geborgenheit nur unter bestimmten Bedingungen erreicht werden kann. "Ich muss als Kind dies oder jenes tun /sein, damit ich von andern geliebt werde / mich geborgen fühlen kann “.
G. Hüther vergleicht diese Art von Bindung mit dem Bild eines eingepferchten, verkrüppelten Baumes, der nicht frei wachsen kann. Gelungene Bindung wäre demnach einem Baum vergleichbar, der sich frei entfaltet.

Kanalisation

8. ... last but not least:

Eltern sind das beste Vorbild für ihre Kinder

9. Abschließende Fragen:

  • Warum werden so viele Frauen ungewollt schwanger?
  • Warum werden so viele ungewollte Kinder geboren?
  • Warum werden schwangere Frauen nicht besser geschützt?
  • Warum sind Eltern in ihrer Rolle so verunsichert? ( Überlastung der Eltern, Ausübung der Vaterrolle, mangelnde oder rigide Grenzziehung durch Eltern ?)
  • Sind die Erziehungseinrichtungen (neurologisch) kindgerecht? (Platz und Zeit für Kinder, Freiräume, ...) ?

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2. Neurobiologische Erkenntnisse für die Schule

Auch nach dem Jahrzehnt des Gehirns werden immer noch neue faszinierende Eigenschaften von Nervenzellen entdeckt, die - wenn man ihren Mechanismus jetzt richtig deutet - auch Auswirkungen auf die Schule haben könnten.

So beschreibt Joachim Bauer (2005) "Spiegelzellen" als Neuronen, die feuern, wenn jemand anderes eine Handlung vollzieht: Im Gehirn des Beobachters feuern die gleichen Nervenzellen. Das gleiche "Programm" läuft sozusagen "im Trockenen" als Resonanz der Beobachtung ab.

Spiegelzellen

 

Fazit:
Die Beobachtung, jede Wahrnehmung eines Vorganges, der bei andern abläuft, kann im Gehirn des Beobachters Spiegelneuronen zum Feuern bringen...

Die Spiegelneuronen des handlungssteuernden prämotorischen Systems liegen beim Menschen in einem Hirnareal, in dem sich auch die Nervenzellen befinden, die Sprache produzieren. Sollte die Sprache etwa aus nichts anderem bestehen als aus Vorstellungen über Handlungsprogramme?"

Bauer; J. (2005): Warum ich fühle, was Du fühlst. Hoffmann und Campe; S. 24 f

Die Tätigkeit der Spiegelneuronen sind die Basis für das gut erforschte "Lernen am Modell". Sie beeinflusst die sensorische und emotionale Wahrnehmungen und verändert damit prinzipiell Handlungsbereitschaft und die Qualität der Handlungsdurchführung. Beim Lernen am Modell sind zwischenmenschliche Beziehungen von überragender Bedeutung sind, d.h. neurologisch gesehen: "die Spiegelzellen werden +/- aktiviert".

Aus diesen neurologischen Grundlagen formuliert J. Bauer (a.a.O. S. 122 ff.) folgende Thesen:

  1. Die persönliche Unterweisung, das Vormachen und Zeigen ist eine entscheidende Komponente des Lehrens und Lernens.
  2. Lehrer treten immer als ganz Personen in Erscheinung. Deshalb ist eine gelungene Gestaltung der Beziehung - nicht die Vermittlung des Stoffes - im Vordergrund.
  3. "Nicht fehlende Bildungsstandards sind das Grundübel in den Schulen, ...[Bezug zu PISA;H.B.], so als hätten die Lehrerinnen und Lehrer seither nicht gewusst, was sie eigentlich unterrichten sollen. Das Hauptübel liegt derzeit vielmehr darin, dass Lehrende - aus unterschiedlichen Gründen - Schwierigkeiten haben, mit ihren Schülern eine Arbeitsbeziehung zu gestalten, die das Lehren und Lernen fördert."
  4. Gesichertes Wissen entsteht durch das handelnde oder fühlende Ausprobieren in der Erfahrungswelt.
  5. Handlungsorientierter Unterricht ist zu unterstützen und zu ermutigen:
    "Beide Phasen des Lehrens und Lernens sind neurobiologisch sinnvoll: zunächst die vom Lehrenden gegebene Einführung und Erklärung des Lerngegenstandes, die sich lebensnaher Herleitung bedienen sollte, dann die Möglichkeit, das Erklärte im Kontext von Anwendungen, die sich eng an der Erfahrungswelt der Schüler orientieren, selbst nachzuvollziehen. Dagegen ist es eine neurobiologisch völlig unsinnige Strategie, Schülergruppen eigenständig neuen theoretischen Stoff mit Hilfe eines Lehrbuches erarbeiten zu lassen."

Literatur:

Bauer; J. (2005): Warum ich fühle, was Du fühlst. Hoffmann und Campe