Portfolio: Baustein einer neuen Lernkultur?
Thomas Rihm betrachtet in seinem Artikel die immer stärker werdende Forderung nach Portfolioarbeit, unter der Fragestellung: "Ist das Portfolio eine subtile Form der Leistungsermittlung oder ist es ein Mittel, Schülerinteressen stärker in den Mittelpunkt zu rücken?" Wäre es nur eine Form der Leistungskontrolle, so sind nach Rhim Enttäuschungen auf Schülerseite vorprogrammiert. Der Schritt von der "Belehrungsanstalt" zur "lernenden Schule" bliebe versperrt.
Folgende Prämissen lassen sich rekonstruieren:
- Lernen ist ein Akt der Unsicherheit. Die Verantwortung für das Lernen liegt beim Schüler, nicht in der steuernden Hand des Lehrers. Dies bedingt Unsicherheit bei zu fällenden Entscheidungen, die von den Lernenden (und natürlich auch von den Lehrenden) auszuhalten ist. Wesentliche Lernaktivitäten gehen von den Lernenden aus.
- Im Gegensatz dazu ist schulisches Lernen vom "guten" Lehrer
gesteuert. Dies erfordert, dass die Lernenden ihm vertrauen. Während
im selbstgesteuerten Lernen die Motivation im wesentlichen intrinsisch
ist, bilden Zensurengebung, Versetzungsordnung,... den extrinsischen Hintergrund
einer Regelschule. Rhim spricht deshalb von einem "institutionellen
Zielkonflikt" der die Lernenden
einem ". doppelten Konfrontationsdruck aussetzt: "einerseits
durch die vorbestimmten Lerninhalte, andrerseits durch die damit verbundenen
Lernrituale". (Rhim S. 15)
--> Misstrauenskultur - In dieser polaren Gegenüberstellung kommt es nach Rhim dazu, dass
Schüler
sich im "herkömmlichen Unterricht" wehren, wenn sie mit
unsicheren Situationen unter Bewertungsdruck konfrontiert werden. d.h.
sie sind aktiv und verweigern offen die Mitarbeit, Formulieren ihre Bedenken,
fordern Änderungen etc.
Greift die Lehrkraft die "Widerstände " auf, dann wäre
der erste Schritt in Richtung Vertrauenskultur geleistet. Unter Umständen
kann dies aber auch bedeuten, dass so eine Lehrkraft in Widerspruch zu
ihren Kollegen gerät.
Beim "passiven Widerstand", werden die Fühlen und Denken nicht thematisiert. Vortäuschen von Lerneifer, Ermahnungen, Bloßstellungen, ... können Folgeerscheinungen sein. Bei den Schülern geht es allein nur noch um den Erwerb der Zertifikate, Noten, Zeugnisse... - Täuschungsversuche werden zum "Normalverhalten".
Was wollen die Befürworter von Portfolios?
Die Vertreter des Portfolios versprechen nun, den Konflikt zwischen Lernen und Anpassung aufzulösen . Rhim überprüft deshalb ihre Argumente in kontrastierender Form:
Die Begründung von Lernhandlungen
- Gewöhnlich setzt die Lehrkraft die Lehrziele und plant mehr oder minder akribisch daraufhin den Unterricht: Überraschungen werden versteckt und von den Schülern gefunden, die Inhalte oft in minimale Portionen zerlegt.
- Für den Lernenden kommt es darauf an, dass den Lehr- und Lernhandlungen ein Sinn zugewiesen werden kann. Dies geschieht umso leichter, je mehr Sinn, Bedeutung und Lebensperspektive zusammenwirken.
Die Offenheit des Lernverlaufs
- Moderne Unterrichtsmethoden geben die Ziele (Inhalte) vor und überlassen den Schülern den Weg zur Zielerreichung.,
- Nach Holzkamp (in Rhim a.a.O. S.20) wird die Zielsetzung zuerst ausgesetzt. Durch die Auseinandersetzung mit einer Problemstellung erfahren die Schüler den Unterschied zwischen Gewußtem und Nichtgewußtem, Ziele werden durch die Diskrepanzerfahrung gebildet, Lösungswege vorgeschlagen.
Der Abschluss des Lernprozesses
- Ist der Lehrprozess abgeschlossen, so werden die Produkte nach Kriterien beurteilt und in Form von Noten generalisiert. Es verbleibt noch die Möglichkeit, dass die Lernenden durch Präsentationen, Darstellung von Produkten, ... die Notengebung erweitern.
- Im Gegensatz dazu ist sind die Prozesserkenntnisse des Lernenden: Welche
Ziele verfolgte ich anfänglich? Welche Irrwege bin ich gegangen? Was
würde
ich anders machen? ... die eigentlich wichtigen Lernergebnisse. Auch die
Erfahrung des "Scheitern könnens"ist in diesem Sinne eine
wichtige Lernerfahrung. Hier wird auch deutlich, dass diese Lernerfahrungen
sehr subjektiv sind und sich kaum in Noten ausdrücken lassen.
"Ob ein Schüler der Öffentlichkeit seine Lernwege anvertraut oder ob er sich vorbehält, Teile oder die Gesamtheit seiner Lernerfahrungen für sich zu behalten, obliegt deshalb allein seiner Entscheidung. Selbstdarstellung wird nicht zur Pflicht, das Innere gewissermaßen nach außen zu kehren nicht Voraussetzung für einen gewinnbringenden Abschluss einer Lernschleife." (a.a.O. S.21)
Über notwendige Bedingungen verfügen
- Im Belehrungsparadigma wird Lernen als persönliche Leistung attribuiert. Erfolg und Misserfolg werden zu Eigenschaften der Person (winner- looser). Dadurch wird der Zusammenhang zwischen Ergebnis und Lernsituation verschleiert.
- Wenn der Unterricht von Alltagsituationen, - Problemstellungen ausgeht, wird es leichter den gesamten Kontext des Lernens ins Blickfeld zu nehmen. Leistungsfähigkeit als Persönlichkeitsmerkmal wird relativiert.
Bewertung
Wenn Rhim auf dieser Grundlage die verschiedenen Portfolioansätze untersucht, wird allen Autoren von Portfolios zuerkannt, dass die subjektiven Interessen der Schüler stärker im Vordergrund stehen. Dazu werden von den Lehrkräften die unterrichtlichen Prozesse schrittweise geöffnet. Beratung, Informationsbeschaffung, Selbskontrolle, Selbstständigkeit,... werden befördert. Da die Schüler sich für Lösungswege und Zielsetzungen entscheiden, tritt die Lehrkraft stärker in den Hintergrund. Eine Entstehung von "neuer" Lernkultur wird begünstigt.
Weil Portfolios aber auch bewertet werden, kann sich durch die Hintertür wieder das alte Belehrungsparadigma einschleichen. Dadurch könnte nach Rhim der intime Raum der Selbsterfahrung im Prozess der Portfolioarbeit entwertet werden. Statt Vertrauen wird Misstrauen erzeugt. Ein unbewertetes Entwicklungsportfolio weist jedoch den Weg zur "neuen Lernkultur".
Weinert: Lernkontexte unterscheiden sich von Leistungskontexten Beim Leisten läuft es darauf hinaus, Fehler zu vermeiden, mangelndes Wissen nicht preiszugeben, und sich selbst in einem günstigen Licht zu präsentieren. Beim Lernen kommt die Neugier zum Zuge, Nichtwissen gilt es zu erkennen, Fehler können Ausgangspunkte für Suchbewegungen sein, Mitschüler und Lehrkraft können als Hilfen genutzt werden, usw. |
Portfolios sind nach Rhim eine Möglichkeit, in einem zensurenfreien Raum, Lernerfahrungen darzustellen und sie mit den Mitschülern zu diskutieren. Eine Dokumentation der Erfahrungen Reflexionen) in einer Mappe ermöglicht die Bewahrung von Lernergebnissen und Einsichten über einen längeren Zeitraum.
Literaturhinweis:
Rihm,Th. (WS 2004/05): Portfolio: Baustein einer neuen Lernkultur? Anmerkungen zur Portfolioarbeit aus subjektbezogener Sicht. In: PH Heidelberg, Informationsschrift Nr. 67: Neue Lernkulturen (II); S. 13 ff